Süddeutsche Zeitung

Mord an James Bulger:Sie nannten ihn den "Paten von Boston" 

Lesezeit: 5 min

Von Johanna Bruckner, New York

Als er das erste Mal jemanden umbringt, erwischt James Bulger aus Versehen den falschen Mann. Eigentlich soll er, der wegen seines weißblonden Haars von allen nur "Whitey" genannt wird, einen Konkurrenten der Killeen-Brüder aus dem Weg räumen. Die irische Gang kontrolliert Ende der 60er Jahre den Süden Bostons. Bulger setzt als Enforcer die Interessen der Bande durch, notfalls mit Gewalt.

Nun soll er seinen ersten Auftragsmord begehen. Bulger stoppt sein Auto also neben dem Wagen eines Mannes, den er für einen rivalisierenden Gangsterboss hält, und schießt ihm durch das Seitenfenster in den Kopf. Der Mann ist sofort tot. Nur dass es sich dabei nicht um Paul McGonagle handelt, Anführer der verfeindeten Mullens-Gang. Sondern um dessen jüngeren Bruder Donny - im Gegensatz zum älteren McGonagle ein unbescholtener Bürger Bostons.

Für Bulger ein "Disaster". Ihn plagt nicht das schlechte Gewissen. Ihn wurmt, dass er versagt hat. Seiner kriminellen Karriere tut die Verwechslung indes keinen Abbruch. Als es Jahrzehnte später zum Prozess gegen James "Whitey" Bulger kommt, ist er wegen 19-fachen Mordes angeklagt - elf Morde können ihm nachgewiesen werden. Dass er 2013 überhaupt verurteilt wird, gleicht einer Sensation: Bulger hatte sich den Behörden 16 Jahre lang entzogen und in Kalifornien unter falscher Identität gelebt. Auf der "Most Wanted"-Liste des FBI wurde er zeitweise gemeinsam mit einem gewissen Osama bin Laden geführt.

An diesem Dienstag hat einer der berüchtigtsten Gangster Amerikas nun ein Ende gefunden, das so gewaltsam ist wie das Leben, das er über weite Strecken führte: James Bulger wurde in einem Gefängnis in West Virginia von einem Mitinsassen getötet. Er saß dort eine doppelte lebenslängliche Freiheitsstrafe ab und war 89 Jahre alt.

Eine Vita, die sich liest wie ein Filmskript

Ein Hollywood-Regisseur hätte sich wohl keinen passenderen Tod für den betagten Berufskriminellen ausdenken können. Und tatsächlich war das Leben des "Paten von Boston" Inspiration für gleich mehrere Filme. 2006 spielte Jack Nicholson im oscarprämierten Film "The Departed" einen Gangster, der an James "Whitey" Bulger angelehnt war. In "Black Mass" aus dem Jahr 2015 wurde er von Johnny Depp porträtiert. Viel ausdenken mussten sich die jeweiligen Macher nicht - Bulgers Vita liest sich auch ohne Zutun wie ein Filmskript.

James Joseph Bulger wird am 3. September 1929 in Everett, nördlich von Boston, als Sohn irischer Einwanderer geboren. Sein Vater war bei einem Unfall unter einen Zug geraten und hatte einen Arm verloren. Wegen dieser Behinderung findet er nur schwer Arbeit, die Familie lebt in Armut. Als sie in ein soziales Wohnprojekt in Süd-Boston zieht, ist James acht Jahre alt und für seine Mutter und die Nonnen in der Schule bereits kaum zu bändigen. Wenn er keine Lust mehr hat, spaziert er einfach aus dem Klassenzimmer.

Mit 14 schmeißt James die Schule endgültig hin - etwa zur gleichen Zeit wird er zum ersten Mal von der Polizei abgeholt. Fünf weitere Festnahmen noch als Jugendlicher folgen, verurteilt wird James nie. Sein Vater verprügelt ihn regelmäßig mit dem einen Arm, den er noch hat - aus lauter Frust über seinen missratenen Sohn. Das zumindest erzählt der später im Gefängnis.

Verpfeifen und schmieren, so kommt "Whitey" jahrzehntelang durch

Bald werden aus Regelverstößen echte, schwere Straftaten. 1955 raubt Bulger mit anderen Gangstern drei Banken in Boston aus. Im Jahr darauf wird er verhaftet und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt - und das, obwohl er zwei seiner Komplizen an die Behörden verrät. Es ist das erste Mal, dass Bulger in offiziellen Akten als Informant auftaucht. Später wird er sich auf diese Art immer wieder der Strafverfolgung entziehen. Verpfeifen und schmieren, so kommt "Whitey" jahrzehntelang durch. Mit seinem Selbstbild als Gentleman-Gangster, der zwar kriminell, aber moralisch integer ist, hat das wenig zu tun. Im Prozess 2013 wird der berüchtigte Gangster nur einmal laut: als ihn ein ehemaliger Weggefährte als "Ratte" bezeichnet.

Während seines ersten Gefängnisaufenthalts lässt sich "Whitey" dazu überreden, für eine geringe Reduzierung seiner Haftstrafe bei einer LSD-Studie mitzumachen. Ihm wird gesagt, es gehe um die Suche nach einem Heilmittel für Schizophrenie. Tatsächlich erhofft sich die CIA im Kalten Krieg mit Gedankenkontrolle-Experimenten einen Vorteil über den Klassenfeind. Bulger leidet in der Folge Zeit seines Lebens unter Schlafstörungen.

Gewinnbringender ist da aus seiner Sicht eine spätere Haftstrafe in Alcatraz. Drei Jahre verbringt der Gangster aus Boston auf der berüchtigten Gefängnisinsel vor San Francisco. Angeblich liest er jeden Tag ein Buch. Seine Interessen? Nach eigenem Bekunden breit gefächert: Militärgeschichte, Krieg, Philosophie, Politik. Vor allem aber hilft die Zeit in Alcatraz Bulger bei seinen weiteren kriminellen Ambitionen: Er gilt nun unter den Gesetzlosen als einer der Ruchlosesten.

Das beeindruckt zurück in Boston auch Howie Winter, Boss der irischen Winter Hill Gang. Er macht Bulger zu seinem Partner. Die Winter Hill Gang herrscht über den kompletten Großraum Boston - Bulger hat es vom Regelbrecher aus "Southie", dem Viertel, in dem er aufwuchs, an die Spitze der organisierten Kriminalität in Boston geschafft. Mitte der 70er schließt er sich mit dem Gangster Stephen "The Rifleman" Flemmi zusammen. Fast zwei Jahrzehnte lang kontrollieren die beiden fortan das Verbrechen in Boston. Buchmacherei, Kreditwucher, Erpressung, Drogengeschäfte, Mord.

"Whitey" ist indes nicht der einzige Bulger, der es in seinem Fach zu etwas bringt. Sein jüngerer Bruder William, genannt Billy, studiert an der Boston College Law School und macht Karriere in der Demokratischen Partei. Der ältere Bulger ist der König der Unterwelt - der jüngere bestimmt als Präsident des Senats von Massachusetts die Politik des Ostküsten-Bundesstaats maßgeblich mit. 18 Jahre lang, länger als jeder andere Politiker vor oder nach ihm. Dabei steht er stets loyal zu seinem älteren Bruder. 2003 macht der Boston Globe öffentlich, dass die Brüder auch Kontakt hatten, als der Ältere auf der Flucht war. Auf Druck von allen Seiten hin gibt William Bulger daraufhin seinen Posten als Präsident der University of Massachusetts auf.

Sein einziges Kind stirbt an einer allergischen Reaktion auf Aspirin

So eiskalt und brutal "Whitey" seinen Geschäften nachgeht - mehrere seiner Opfer foltert er und vergräbt sie anschließend im Keller eines Hauses: Seine Familie steht genauso zu ihm wie seine diversen Frauen. Vor den Traualtar führt "Whitey" allerdings keine von ihnen. Sein einziges Kind, ein Sohn aus einer Beziehung mit einer Kellnerin, stirbt mit sechs Jahren nach einer allergischen Reaktion auf Aspirin.

Die große Liebe in "Whiteys" Leben ist eine Frau namens Catherine Greig. Die geschiedene Zahnhygienikerin ist 22 Jahre jünger als der Gangsterboss und duldet nicht nur eine Parallel-Freundin - sie gibt, als es darauf ankommt, buchstäblich ihr Leben für ihn auf. Kurz bevor 1995 die Handschellen klicken können, bekommt Bulger einen Tipp von einem befreundeten FBI-Agenten, dem er regelmäßig Geld zusteckt. Er kann gemeinsam mit Catherine fliehen. Die beiden landen in Santa Monica, Kalifornien. Aus den Flüchtigen werden dort die Rentner Charlie und Carol Gasko.

Das vermeintliche Ehepaar wohnt in einem mietgebundenen Appartement, zwei Blocks vom Strand entfernt. Die beiden leben nach außen bescheiden und unauffällig. Zum Verhängnis wird ihnen schließlich, dass sie sich um eine streunende Katze kümmern - deshalb bleiben sie einer ehemaligen Nachbarin in Erinnerung, die Catherine Greig 2011 auf einem Fahndungsfoto erkennt. Als das FBI die Wohnung in Santa Monica durchsucht, finden die Ermittler 30 Waffen und 822 000 Dollar in bar. Versteckt hinter den Wänden.

"Sie sollten ihr eine Medaille verleihen"

In einem Brief aus dem Gefängnis schreibt Bulger später an einen Freund: "Sie hat es geschafft, dass ich 16 Jahre ohne Verbrechen gelebt habe - dafür sollten sie ihr eine Medaille verleihen." Gemeint war Catherine Greig. Die treue Gefährtin des Bostoner Gangsters bekam allerdings keinen Orden, sondern landete selbst im Knast: Sie wurde wegen Beihilfe zur Flucht und Identitätsbetrug zu einer achtjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.

Am Dienstag hat Bulger seine Vergangenheit nun ein zweites Mal eingeholt. Der Mann, der im Verdacht steht, den "irischen Paten" ermordet zu haben, hat dem Boston Globe zufolge Verbindungen zur italienischen Mafia. Die hatte "Whitey" jahrzehntelang gegen das FBI ausgespielt: Indem er seine kriminelle Konkurrenz an die Behörden verriet, sicherte er sich selbst Straffreiheit.

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