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Heidentum auf Island:Thor sei bei dir

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Die alten germanischen Götter finden in Island immer mehr Anhänger. Mit Spinnern und völkischem Denken haben sie aber nichts zu tun. Stattdessen liegt ihnen der Umweltschutz am Herzen.

Von Silke Bigalke, Reykjavik

Die Geschichte mit dem Gewitter sei wirklich wahr, sagt Hilmar Örn Hilmarsson, oberster "Gode" der Heiden in Island. Es war das schlimmste Unwetter seit vielen Jahren und toste ausgerechnet am jenem Tag über Reykjavík, als beim Justizminister ein besonderer Antrag einging: Er sollte die Heiden als Religionsgemeinschaft anerkennen.

Die isländische Ásatrú-Gemeinde war damals eine kleine Gruppe aus Autoren, Literaturliebhabern, Naturfreunden und Hippies. Ásatrú leitet sich ab von Asen, dem Geschlecht von Donnergott Thor und Göttervater Odin. Im Mai 1973 gelang ihren Anhängern in Reykjavík, was die wenigsten neuheidnischen Gruppen in Europa geschafft haben: Sie wurden staatlich anerkannt. In Island ist eine Ehe, geschlossen im Angesicht von Frigg, Odin, Thor und Freya, so gültig wie jede christliche.

Als jenes Gewitter tobt, ist Hilmar Örn Hilmarsson 14 Jahre alt und noch nicht religionsmündig, doch "ein sehr romantisches Kind", wie er sagt, und schon ganz vertieft in die Edda, die wichtigste Sammlung nordischer Götter- und Heldensagen. Er lernt, wie die Götter ins Universum traten, um das Chaos zu ordnen und die Welt aus dem Körper eines erschlagenen Riesen schufen, und wie der weise Odin auf seinem achtfüßigen Ross und den beiden Raben auf den Schultern über den Himmel reitet. Sofort an seinem 16. Geburtstag tritt Hilmarsson den Ásatrú bei, er wird Mitglied Nummer 36.

Schwer erklärbarer Glaube

Heute ist er "Allsherjargode", Chef und oberster Priester einer rasch wachsenden Gemeinde, die mit knapp 3000 Mitgliedern - etwa ein Prozent der Bevölkerung - größte nicht-christliche Religionsgemeinschaft Islands ist. Ihren Göttern bauen sie nun zum ersten Mal seit der Wikingerzeit einen "Hof", eine Art Tempel. Den 56-jährigen Allsherjargode schaudert, wenn er daran denkt, wen dieser Hof in Reykjavík alles anziehen wird. Interessenten aus aller Welt haben sich angemeldet. "Es ist ein Albtraum", sagt Hilmarsson. "Die Leute sehen uns als Rom des Nordens."

Vielen Heiden weltweit gilt Island nicht nur wegen der Edda als gelobtes Land. Weil das Heidentum staatlich anerkannt ist, erhalten die Ásatrú Steuergeld und Raum für ihre Zeremonien. Niemand wird schief angeschaut, der im Wikingergewand am Feuer steht und den Donnergott anruft. Doch ausländischen Gruppen gegenüber sind die Ásatrú sehr verschlossen. Sie wollen sich weder reinreden noch instrumentalisieren lassen. Vor allem fürchten sie Spinner, die das Heidentum als Religion der Germanen mit völkischen, rassistischen Ideen verbinden.

Auf den Rummel kann Hilmar Örn Hilmarsson, ein ruhiger Mann mit freundlichen Augen, weißem Bart und Norwegerpulli, gut verzichten. Bis ihr Götterhaus steht, ist das "Rom des Nordens" ein umgebautes Ladenlokal in Reykjavík: Tische, Stühle, weiße Tassen, ein ausgestopfter Rabe auf einem Schrank. Auf Fotos an der Wand sind Models kitschig als nordische Götter inszeniert. Du sollst dir kein Bild machen - das gilt hier nicht. Was die Menschen verbindet, sind diese Bilder von Thor mit dem Hammer, Odin mit dem Raben, der Göttin Hel im Totenreich. In Island wachsen Kinder mit den Figuren der Edda auf. Wer sie zu seiner Religion macht, kann schwer erklären, woran er eigentlich glaubt. Für den einen sind die Götter übermenschliche Wesen, für andere Naturgewalten oder Werte wie Gerechtigkeit, Weisheit, Schutz.

Für Hilmarsson sind es gute Mächte, die nicht über ihm stehen, sondern ihn umgeben, alles durchfließen. Kern seines Glaubens sei es, ein ehrlicher, guter Mensch zu sein, möglichst konfliktfrei zu leben. Odin gibt im "Hávamál", dem Hohen Lied der Edda, Ratschläge dafür. Trotzdem taugen die nordischen Götter - fehlbar und sterblich - weder als Vorbild, noch Wunschzettelempfänger. "Wir fragen nicht: Was würde Odin jetzt tun?", so Hilmarsson. "Das würde uns auch in große Probleme stürzen."

Es gibt zum Beispiel dieses Gedicht, viel jünger als die Edda, in dem die Götter eine Party feiern, sehr betrunken sind und gar nicht mitbekommen, wie die Welt unterzugehen droht. Hilmarsson hat es mit der isländischen Band Sigur Rós vertont. Der Gode ist nämlich auch Komponist, hat schon mit Sängerin Björk zusammengearbeitet und für seine Musik zum Oscar-nominierten Werk "Children of Nature" den Europäischen Filmpreis gewonnen. In Hollywood hat er für "In the cut" mit Meg Ryan komponiert, doch L.A. war nichts für ihn.

Deutsche Neonazis, die gerne "Heil Odin" brüllen

Für den ersten Spatenstich zum neuen Hof hat er sich den Tag der Sonnenfinsternis ausgesucht. Vor ihm auf dem Tisch liegen die Entwürfe für den Tempel, der am Hang zum Wasser liegen wird, einige Meter tief in den Boden eingegraben, um der Erde, der Natur näher zu sein. Lange musste die Ásatrú-Gemeinde auf den Baubeginn warten, sie hatte viel Geld in der Finanzkrise verloren. Nun steckt sie knapp 900 000 Euro in einen ersten Teil, die Versammlungshalle. Deren Form erinnert an etwas zwischen Walnuss und Arche, das raffinierte Glasdach wirft je nach Sonnenstand verschiedene Licht-Formen ins Innere. Mit dem, was die Wikinger vermutlich als Hof verstanden, hat das nichts zu tun. Die Quellen reichen ohnehin nicht, um den alten Glauben genau nachzuleben. Die Isländer versuchen es gar nicht erst, ihr Heidentum ist eine neue Religion, keine alte.

Auch in Deutschland verabreden sich erste Reisegruppen, um den Hof zu besuchen. "Unter deutschen Heiden herrscht oft der Mythos, dass in Island alles besser ist", sagt Religionswissenschaftlerin Dagmar Fügmann, die seit Jahren Ásatrú-Anhänger für ein Forschungsprojekt beobachtet. In Deutschland gebe es ungezählte Gruppen, Einzelpersonen und Vereine, insgesamt sicher mehrere Tausend germanische Heiden. Ihre Lage ist anders als in Island, auch wenn sie sich auf dieselben Quellen und Götter stützen. Die Brüder Grimm und Richard Wagner haben vermutlich aus der Edda abgeschrieben. Doch dann entstand seit Ende des 19. Jahrhunderts eine völkische Bewegung, die das germanische Heidentum zur passenden Religion für ihre Rassenideologie erkor.

Yggdrasil ist die Weltesche. Ein riesiger, immergrüner Baum, der neun Welten umspannt. Im Wipfel wohnen die Götter. Eine ihrer Welten heißt Asgard, Heimat der Arsen, Odins und Thors Göttergeschlecht. Weiter unten haben Menschen, Riesen und Zwerge ihre Welten. Das Reich der Toten, Helheim, liegt unter den Wurzeln, an denen Schlangen und Drachen nagen. Eine der Wurzeln reicht zum Brunnen des Mimir, Quelle der Weisheit unter dem Yggdrasil, aus der Göttervater Odin trinkt. Er hängt sich neun Tage lang verwundet an den Weltenbaum und ersinnt die Schriftzeichen der Runen.

Göttervater Odin ist weise und kriegerisch. Mit den Brüdern erschlug er den Riesen Ymir, baute aus ihm die Welt. Die Weisheit verdankt Odin auch einem Schluck vom Brunnen des Mimir, dafür musste er das linke Auge geben. Er überblickt vom Göttersitz Asgard die Welt. Walhall ist einer seiner Paläste, Halle der gefallen Helden. Mit einem Kuss laden die Wallküren die Tapfersten zum ständigen Fest dort ein, wo sie mit Odin den letzten Kampf erwarten. Er reitet ein achtbeiniges, sehr schnelles Pferd, sein Speer trifft stets. Doch stirbt er beim Weltuntergang "Ragnarök", der Götterdämmerung.

Nach Odin ist Thor der gefürchtetste Gott. Hammerschwingend poltert er mit einem Ziegengespann über die Wolken, reizbar und mit unglaublichem Appetit. Einmal fährt er mit dem Riesen Hymir zum Angeln aufs Meer. Als Köder benutzt Thor einen Stierkopf, und Jörmungand beißt an, eine gigantische Schlange und Schwester der Todesgöttin Hel. Es kommt zum Kampf zwischen Thor und Schlange, Hymir schneidet die Angelschnur durch, Jörmungand entkommt. Doch in Ragnarök, der Untergangssage, erschlägt Thor die Schlange mit dem Hammer - und stirbt dann an ihrem Gift.

Ásatrú-Anhänger in Deutschland hätten häufig die Erfahrung gemacht, "dass es eine reflexartige Gleichsetzung gibt: Wenn du germanischer Heide bist, dann bist du auch rechtsradikal", erklärt Fügmann. Dabei distanzierten sich viele deutlich von jedem rechten Gedankengut. Schuld an den Vorurteilen sind vereinzelte, rechtsextreme Splittergruppen. Und immer wieder Neonazis, die zur Sonnenwende ein Feuer anzünden und "Heil Odin" brüllen - nicht nur in Deutschland.

Die isländischen Heiden erreichen im Jahr Hunderte Briefe aus dem Ausland, sagt Hilmarsson, von Goden, die Anleitung oder offizielle Anerkennung wünschen. Es sind Irre dabei, wie einer aus Südafrika, der sich eine echte Wikinger-Frau aus Island wünschte. Die Idee von Volk und ethnischen Gruppen sei seiner Religion aber völlig fremd, sagt der Allsherjargode. Idiotisch geradezu, aus einem Glauben, bei dem Götter von Riesen abstammen, Ideen von ethnischer Herkunft abzuleiten. Das Heidentum sei immer verbunden gewesen mit Islands Geschichte und Identität, "aber nie im völkischen Sinne".

Wenn sie überhaupt politisch sind, sagt Terry Gunnell, Professor für Volkskunde an der Uni Reykjavík, sind Islands Heiden am ehesten linke Umweltschützer. Gunnell machte 2007 eine Glaubensumfrage in Island: Nur acht Prozent lehnten den Glauben an heidnische Götter völlig ab.

Fast scheint es so zu sein, als sei für die Isländer im Jahr 1000, als das Christentum zur Staatsreligion erklärt wurde, einfach nur ein weiterer Gott dazu gekommen. Ihren Glauben an Naturgeister, Elfen und die anderen unsichtbaren Wesen des verborgenen Volks haben sie nie ganz verloren. Auf einer Vulkaninsel, wo Gletscher, unaufhaltsame Lavaflüsse und Stürme das Land ständig verformen, muss man sich mit allen Geistern gut stellen. Nur 13 Prozent der Isländer sind sich laut Umfrage sicher, dass es keine Elfen gibt. Die meisten würden einen Stein im Garten nie anrühren, glaubt Gunnell, wenn der Nachbar sagt, dass Elfen darin lebten. Sicher ist sicher.

Die Kirche hat einfach auch die Elfen für christianisiert erklärt

Wer die evangelisch-lutherische Staatskirche fragt, was sie vom neuen Erfolg des Heidenglaubens hält, den schickt sie zu Religionswissenschaftler Bjarni Randver Sigurvinsson. Als Hauptgrund für den großen Zuwachs der Ásatrú-Gemeinde macht er Fehler und Skandale der Kirche aus, angefangen von Missbrauchsvorwürfen gegen den isländischen Bischof Mitte der 90er-Jahre. 2000 folgte der nächste GAU: Die Staatskirche wollte ihr Millennium ausgerechnet in Thingvellir feiern, jenem Ort im Westen, an dem sich die Wikinger früher versammelten, um ihre Gesetze zu beschließen. Für die Ásatrú-Anhänger hat der Ort besondere Bedeutung, doch die Kirche wollte sie nicht dabeihaben. Der Streit gipfelte darin, dass Heiden für die aufgestellten Toiletten bezahlen sollten, während Christen sie umsonst nutzen durften. Den Ásatrú brachte der absurde Konflikt viel Aufmerksamkeit. Heute bemühe sich die Kirche um Austausch, sagt Sigurvinsson, der dabei half, 2006 ein Dialogforum für alle Religionsgruppen einzurichten.

Immer wieder verbünden sich Umweltschützer und Ásatrú-Anhänger, aktuell im Protest gegen eine neue Straße südlich von Reykjavík. Ein Felsbrocken, der ihr weichen sollte, wurde kurzerhand zur Elfenkirche erklärt und zog internationale Aufmerksamkeit auf das Projekt. Hilmarsson sollte dem Felsen seinen Segen geben, was er besonders ironisch findet, weil auch die Elfen nach 1000 christianisiert wurden - was die Elfenkirchen erklärt . Am Ende half alles nichts, der Stein wurde versetzt.

Am Morgen der Sonnenfinsternis versammeln sich die Zuschauer am Hang, in dem die Ásatrú-Gemeinde ihren Hof bauen möchte. Das Publikum ist gemischt, Menschen wie Odin-Anhänger Gunnar Viking Olafsson sind gekommen, der Wolfspelz und Wikinger-Helm trägt. Viele Studenten sind da, wie Josh Rood, der extra aus den USA nach Reykjavík gezogen ist, um die nordische Religion zu studieren. Auch eingefleischte Christen wie Magnea Einarsdóttir sehen zu, die sagt, sie würde den Ásatrú beitreten, würde die Kirche nur die Doppel-Mitgliedschaft erlauben.

Die Zeremonie beginnt ohne ausgefeiltes Programm. Hilmarsson murmelt seine Verse, kippt Bier Marke Viking aus Dosen in ein Horn und reicht es herum. Dann schüttet er Bier auf den Boden, als Opfer für die Götter. Der Mond schiebt sich langsam vor die Sonne, und jemand entzündet ein Feuer, um dem Licht bei der Rückkehr zu helfen. Als die Finsternis vorbei ist, kommt Dagur Bergþóruson Eggertsson, Bürgermeister von Reykjavík, dazu. "Jede Religion hat das Recht auf ihren eigenen Ort für den Gottesdienst", sagt er, bevor er den Spaten in den kalten Boden stößt.

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SZ vom 18.04.2015
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