Süddeutsche Zeitung

Homosexualität in Indien:"Wir sind keine Kriminellen mehr"

Lesezeit: 3 min

Von Arne Perras, Singapur

Paragraf 377 im indischen Strafgesetzbuch stuft Homosexualität als ein Verbrechen ein. Und der Kampf gegen diesen Passus hat sich lange hingezogen. Doch nun gibt es einen Durchbruch, nun haben die obersten indischen Richter dazu alles Nötige gesagt: Der Paragraf verstößt gegen die Verfassung und muss verschwinden. Als die Entscheidung bekannt wurde, brach Jubel in vielen Teilen Indiens aus, wie der Fernsehsender "Times Now" am Donnerstagvormittag verbreitete, vor dem Gerichtsgebäude in Delhi flossen Tränen.

"Ich bin begeistert, ich habe keine Worte", sagte die Aktivistin Debottam Saha, die mit einer Petition vors Verfassungsgericht gezogen war. "Wir sind jetzt keine Kriminellen mehr." Dennoch glaubt Saha, dass es im Alltag dauern wird, bis sich die Anerkennung durchsetzt. "20, 30 Jahre vielleicht", sagt sie. Kurz darauf lobten auch die Vereinten Nationen das historische Urteil von Delhi und äußerten die Hoffnung, dass es helfen werde, das Stigma für die Gemeinde der Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen (LGBT) zu beseitigen.

Homosexualität gilt in Teilen der indischen Gesellschaft noch als großes Tabu. Das Gesetz, das nun als verfassungswidrig eingestuft wurde, reicht zurück in die Ära britischer Herrschaft auf dem Subkontinent und spiegelt die rigiden Normen des viktorianischen Zeitalters wider, die auch die koloniale Gesetzgebung für die überseeischen Besitzungen prägte. In vielen Ex-Kolonien Asiens und Afrikas finden sich deshalb juristische Relikte jener Zeit, die "fleischlichen Verkehr gegen die Ordnung der Natur" kriminalisierten und später in die Strafkataloge der neuen, unabhängigen Staaten übernommen wurden.

Konservative Gruppen und religiöse Eiferer in Indien versuchten jahrelang, eine Abschaffung des Paragrafen 377 zu verhindern.

Die Erzählungen eines anderen Aktivisten, Akilesh Godi, geben einen Eindruck, wie schwer die Last der Diskriminierung zu ertragen ist. Der Ingenieur, der in Hyderabat in einem liberalen Elternhaus aufwuchs, spricht von schweren Depressionen, unter denen er lange litt. Der gesellschaftliche Druck war groß, so dass er seine sexuelle Orientierung oft anzweifelte. "Das Etikett eines Kriminellen macht es noch schlimmer. Man wagt es gar nicht, mit einem Psychiater zu sprechen, weil man nicht weiß, wie er reagiert", erzählte Godi einem Reporter der Agentur Reuters.

Das Stigma und die weit verbreitete Diskriminierung führte in Indien dazu, dass viele ihre sexuelle Orientierung versteckten. Aysha Kapur, die eine von fünf Petitionen an den Supreme Court eingereicht hatte, um "Section 377" aus dem Strafgesetzbuch zu beseitigen, beschrieb die Schwulen und Lesben einmal als die "Unsichtbaren" in ihrem Land. Sie hätte jederzeit in Handschellen abgeführt werden können. "Ich will nicht als Kriminelle gesehen werden, darum geht es." Section 377, die auf das Jahr 1862 zurückgeht und nun weitgehend aufgehoben werden muss, sah Strafen bis zu zehn Jahren Haft vor. Ein Verbot von Sex mit Tieren soll erhalten bleiben.

Der Hinduismus erzählt von großer Toleranz gegenüber Homosexualität

In Indien kam es selten zur Anklagen gegen Homosexuelle, was auch das Verfassungsgericht feststellte. Doch hatte das diskriminierende Gesetz erhebliche Folgen im Alltag. Schwule, Lesben oder Transsexuelle sind bei so einer Gesetzeslage häufig schwerem Missbrauch und Verfolgung ausgesetzt, ohne Chance sich zu wehren. Zur Polizei trauen sie sich nicht, weil sie ja - vor dem Gesetz - als Kriminelle gelten. Der Verfassungsgerichtsentscheid gilt als wichtige Voraussetzung, um Unterdrückung und Gewalt einzudämmen.

"Den Mitgliedern der LGBT-Gemeinde und ihren Familien schuldet die Gesellschaft eine Entschuldigung, weil ihnen über die Jahre gleiche Rechte verweigert wurden", erklärte die Richterin Indu Malhotra. Depak Misra, der den Vorsitz am Gericht innehat, sagte: "Sozialer Moralismus kann nicht das Recht eines einzigen Individuums verletzen." Es gelte, Vorurteile zu besiegen. "Ich bin, was ich bin", sagte Misra. "Also nehmt mich so, wie ich bin."

Der Kampf gegen das Gesetz aus Kolonialzeiten war zäh und zog sich über viele Jahre. Doch erzählt gerade die Geschichte des Hinduismus auf dem Subkontinent von weit größerer Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichem Sex als im späteren, vom Imperialismus geprägten Kolonialstaat und auch in den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit. In den mythologischen Erzählungen gibt es gleichgeschlechtliche Begegnungen, Liebespiele und erotische Szenen, die sehr wenig mit den prüden Moralvorstellungen britischer Imperialisten im 19. Jahrhundert zu tun haben

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SZ vom 07.09.2018
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