Süddeutsche Zeitung

Entwicklungshilfe:Rad für die Welt

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In Ländern wie Malawi sind Fahrräder lebenswichtig: Vielen Schülerinnen etwa ermöglichen sie den Zugang zu Bildung. Nur besitzen die meisten gar keine Räder. Kann ein Hilfsprojekt diesen Missstand nachhaltig beseitigen?

Von Titus Arnu

An die sieben Kilometer lang ist Alenis Weg zur Schule, drei Stunden war sie da schon mal unterwegs. Ein Fluss, der den Weg kreuzt, war oft unpassierbar. Oft verpasste sie die ersten zwei oder drei Unterrichtsstunden, manchmal schaffte sie es gar nicht. Aleni, 16, lebt in einem abgelegenen Dorf in Malawi. Sie will Krankenschwester werden und braucht dafür einen Schulabschluss. All das erzählt sie in einem Video der Organisation World Bicycle Relief (WBR).

Einen Bus, der Kinder zur Schule bringt, gibt es in Alenis Region weit und breit nicht, Malawi gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Es war ein Fahrrad, das der jungen Frau den Weg zur weiterführenden Bildung erschloss: Über WBR bekam Aleni ein robustes Buffalo-Rad geschenkt. Seitdem habe sich ihr Alltag entscheidend verändert, sagt sie. "Ich habe jetzt bessere Noten und mein Schulweg ist so viel einfacher und schneller."

Ein Fahrrad kann so viel mehr sein als ein Metallrahmen mit zwei Rädern. Es transportiert alle möglichen Hoffnungen, auch in unserem Kulturkreis. Das Zweirad, ob elektrisch oder per Muskelkraft betrieben, ist in der Corona-Pandemie hierzulande noch mal deutlich beliebter geworden, gilt als Lösung für die Verkehrskrise in Großstädten, als wichtiger Beitrag im Kampf gegen die Klimakrise, als Fitnessgerät, Lifestyle-Statement und Öko-Statussymbol.

In Ländern wie Malawi dagegen ist ein Fahrrad für viele Menschen viel mehr als das: Es ist lebensnotwendig. Die Zweiräder ermöglichen Schülerinnen wie Aleni den Zugang zu Bildung, Kleinunternehmer können damit zu Kunden fahren, Frauen Wasser zum Kochen holen, Bauern ihr Gemüse auf den Markt bringen. In der Theorie. Denn viele Menschen in ländlichen Regionen Afrikas besitzen eben keine Fahrräder.

Keine komplizierten Bauteile

Mobilität als Motor für nachhaltige Entwicklung, das ist die Grundidee von WBR. "Das Fahrrad ist in Afrika oft das Mittel der Wahl, da es kostengünstig und leicht zu reparieren ist, man braucht kein Benzin und es ist ökologisch sinnvoll", sagt Lena Kleine-Kalmer, Sprecherin von WBR. Große Distanzen zu Schule, Arbeitsstelle oder Arzt sind in ländlichen Gebieten für Millionen Menschen oft unüberwindbar, weil die eigenen Füße das einzige Fortbewegungsmittel sind.

Da kann ein Fahrrad schon mal den entscheidenden Unterschied ausmachen.

Gegründet wurde WBR im Jahr 2005, ein Jahr nach dem Tsunami in Südostasien vom US-amerikanischen Unternehmer Frederik Day und seiner Frau, der Dokumentarfotografin Leah Missbach Day. Frederik Day, Mitinhaber des Fahrradkomponenten-Herstellers SRAM, hatte damals einen Plan, er wollte Menschen in Gebieten mit schlechter Infrastruktur mit Fahrrädern unterstützen. Nur: mit welchen Fahrrädern? Die Umstände verlangen schließlich nach einem Rad mit besonderen Eigenschaften.

Zusammen mit Ingenieuren von SRAM entwarf Day also ein robustes Fahrrad, das keine komplizierten Bauteile hat und leicht zu reparieren ist. Das Modell "Buffalo" entspricht nicht gerade der deutschen Straßenverkehrsordnung, es hat kein Licht und keine Handbremse, nur eine Rücktrittbremse. Der Rahmen ist komplett aus Stahl und mit 23 Kilo ziemlich schwer, dafür aber fast unkaputtbar. Der Gepäckträger hält bis zu 100 Kilo aus, Kinder ab zwölf und Erwachsene können damit fahren, auch zu zweit oder zu dritt.

Die Buffalo-Fahrräder sind durch Spenden finanziert und werden an verschiedenen Standorten in Afrika zusammengebaut. Eine Fahrradproduktion in Afrika existierte zuvor nicht, auf den Straßen sieht man vor allem chinesische und indische Modelle. In den letzten Jahren sind in in Sambia, Simbabwe und Kenia Montagestätten für Buffalo-Räder entstanden. Der Rahmen wird von der Firma Giant gefertigt, weitere Einzelteile werden aus Asien geliefert. In mehreren afrikanischen Ländern gibt es Buffalo-Werkstätten und Shops, die Räder reparieren und verkaufen. Die Produktion eines Buffalo-Bikes kostet etwa 135 Euro, Gewinnmargen gibt es keine, alle Einnahmen fließen wieder in die Fahrradproduktion und soziale Projekte.

Gemeinden können eine Person wählen, die von der NGO vor Ort als Mechaniker ausgebildet wird und dann ihren eigenen Shop eröffnen kann. So schafft die Organisation Jobs und stellt gleichzeitig sicher, dass die Räder lange laufen. In diesem Februar wurde der 2500ste Mechaniker ausgebildet, ein Meilenstein für die Nachhaltigkeit des ganzen Projekts. "Nur mit Ansprechpartnern vor Ort, die das entsprechende Know-how und Werkzeuge haben, können wir die Wirkung der Fahrradprogramme sicherstellen", sagt Lena Kleine-Kalmer.

HIV-Raten sinken

50 000 bis 70 000 Räder liefert WBR pro Jahr aus, 535 000 sind es bis jetzt insgesamt. Wie sinnvoll die Arbeit von WBR ist und wie gut sie funktioniert, zeigen mehrere Untersuchungen. Wenn Bauern ihre Milch mit Fahrrädern transportieren, anstatt sie zu Fuß zu schleppen, erhöht das ihr Einkommen und die Milchmenge laut einer Wirkungsstudie um ein Viertel. Und wenn freiwillige Gesundheitspflegerinnen mit dem Fahrrad abgelegene Dörfer besuchen, um dort Aufklärungsvorträge zu halten und bei der medizinischen Versorgung zu helfen, sinken HIV-Raten und die Anzahl der Teenager-Schwangerschaften. Eine Studie über das Bildungsniveau in Sambia beweist, dass die Schulleistungen von Jugendlichen deutlich steigen, wenn sie ein Fahrrad besitzen.

Während in Deutschland über aggressive Kampfradler gestritten wird, über Pop-up-Radwege und zunehmenden E-Bike-Verkehr in den Bergen, ist das Fahrrad in Ländern wie Malawi, Simbabwe, Sudan, Sri Lanka oder den Philippinen für viele Menschen ein Vehikel für den Aufbruch in ein besseres Leben. Schon vor der Covid-19-Pandemie konnten 132 Millionen Mädchen weltweit nicht zur Schule gehen, aus religiösen, finanziellen oder logistischen Gründen. Mittlerweile sind es wahrscheinlich noch mehr. Wenn Mädchen allerdings Fahrräder zur Verfügung haben, dann verringern sich ihre Abwesenheitstage in der Schule um ein Drittel. Lernergebnisse und Selbstbewusstsein verbessern sich.

Auch bei Aleni aus Malawi. "Bildung ist wichtig. Denn wenn ich einmal mit der Schule fertig bin, werde ich einen besseren Job finden und so mich selbst und meine Eltern finanzieren können", sagt sie. Nach dem Abschluss der achten Klasse ist sie mittlerweile die erste Person in ihrer Familie und in ihrer Gemeinde, die eine weiterführende Schule besucht. Sie kann sich jetzt auf ihren Traum konzentrieren und Krankenschwester werden. Das Fahrrad bringt sie ihren Zielen zumindest ein gutes Stück näher.

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