Süddeutsche Zeitung

Brexit:London am Tag danach

Lesezeit: 3 min

Von Cathrin Kahlweit, London

Als Shailesh Vara am Donnerstagmorgen zurücktrat, twitterte ein Witzbold noch: "Okay, wenn es niemand anderes tut, dann frage ich: Wer ist dieser Mann?" Aber die Zeit der Scherze war schnell vorbei. Shailesh Vara war Staatssekretär für Nordirland, relativ unbekannt, zugegeben, aber eben doch Mitglied des Kabinetts in London. Er könne keinen Brexit vertreten, den er für halbherzig halte und der die versprochene Unabhängigkeit des Landes nicht herbeiführe, sagt er.

Nach ihm trat der Brexit-Minister zurück, Dominic Raab. Er respektiere alle, die den vorliegenden Deal für die beste aller erreichbaren Möglichkeiten hielten, schrieb Raab an die Premierministerin. Aber er könne keinen Brexit unterstützen, bei dem die EU das letzte Wort über das Schicksal des Königreichs habe.

Das Echo für Raab war, milde gesagt, unfreundlich: Viele Brexit-Gegner schimpften, es sei schon merkwürdig, dass einer nach dem Ende der Verhandlungen "ohne mich!" rufe, der zuvor eben diese Verhandlungen maßgeblich mitbetrieben habe. Andererseits ließ der Chef-Brexiteer der Tories, Jacob Rees-Mogg, umgehend wissen, Raab sei ein "Mann von Prinzipien". Wozu man wissen muss, dass Rees-Mogg seit Tagen alle Minister zum Rücktritt auffordert. Seine Ausbeute ist bislang eher mager.

Nach Raab trat dann immerhin noch Arbeitsministerin Esther McVey zurück, die schon lange als Kritikerin eines Kurses gilt, der dem Land nicht umgehend mehr Freiheit von der EU beschert, und nach ihr noch zwei Unterstaatssekretärinnen. Immerhin, als Theresa May am Vormittag vor das Unterhaus trat, um den Vertrag mit Brüssel zu erläutern, hatte sie nur zwei Minister verloren. Aber sie wusste: Der Tag war noch nicht zu Ende.

Am Nachmittag wurde bekannt, dass Rees-Mogg ein Misstrauensvotum gegen May betreibt - und die nötige Zahl von mindestens 48 Unterstützern im Parlament zusammenbekommen will. Er veröffentlichte einen entsprechenden Brief.

Noch am Vormittag hielt May eine sehr kämpferische Rede im Unterhaus, in der durchaus auch Stolz darüber zu hören war, dass sie das Unwahrscheinliche geschafft habe. Manche hätten gesagt, dieser Brexit sei "nicht machbar. Ich habe das nie akzeptiert", sagte sie. Der Prozess sei frustrierend gewesen, das schon, aber die Alternative - ein Ausstieg ohne Deal, der unter anderem eine harte Grenze für Nordirland bedeutet hätte - wäre "unverantwortlich" gewesen.

Wenn man als Maßstab die letzten Reden nimmt, die May im Unterhaus gehalten hat, etwa die Fragestunde am Mittwoch, dann wurde deutlich, dass Proteste, hämische Kommentare und lautes Gelächter an diesem Donnerstag etwas sparsamer waren. Möglich, dass noch nicht alle Abgeordneten die fast 600 Seiten gelesen hatten. Möglich auch, dass manch einer erschöpft war von den anderthalb Jahren, in denen die Umsetzung des Austritts alle anderen politischen Fragen überlagert hatte.

Im Unterhaus melden sich vor allem Kritiker zu Wort

Jedenfalls fielen die Anmerkungen zum Vertrag, der am späten Mittwochabend veröffentlicht worden war, teils fast wortgleich so aus wie in den Tagen zuvor. Labour-Chef Jeremy Corbyn sagte, der Deal erfülle die sechs Bedingungen nicht, welche die Sozialisten für ein Ja verlangt hatten. Der Fraktionschef der Schottischen Nationalpartei, Ian Blackford, schimpfte, alle kämen in dem Text vor, Gibraltar, die Isle of Man, Irland, nur über die Bedürfnisse von Schottland habe wohl niemand nachgedacht. Der Fraktionschef der nordirischen, protestantischen DUP, Nigel Dodds, dessen Partei schon angekündigt hat, gegen den Vertrag zu stimmen, rief kämpferisch, die Entscheidung sei klar: "Stehen wir auf für ein Vereinigtes Königreich? Oder stimmen wir für einen Vasallenstaat und den Zerfall des Vereinigten Königreichs?" Dann fügte er erschöpft hinzu, er könne May nur wieder einmal die Liste ihrer gebrochenen Versprechen vorbeten, aber sie höre ja sowieso nicht zu.

Nur sehr wenige Abgeordnete sprachen sich an diesem historischen Tag 1 nach Vorlage des mühsam ausgehandelten Deals mit Brüssel für den Vertrag aus; wer sich im Unterhaus zu Wort meldete, brachte scharfe Kritik vor oder regte ein zweites Referendum an. Theresa May nickte, schüttelte den Kopf, lächelte, blieb höflich; sie war an diesem Donnerstag im "Ich-lasse-mich-nicht-aufhalten-Modus", und wirkte dabei für ihre Verhältnisse ziemlich aufgeräumt. Tatsächlich hat sie ja geliefert, nun müssen andere - die Abgeordneten, Juristen, die europäischen Partner - den Deal bewerten beziehungsweise darüber abstimmen.

Ob ihr Deal allerdings die nächsten Wochen überlebt, war nach diesem Tag im politischen London fraglicher denn je. Zwar äußerten sich britische Wirtschaftsverbände und europäische Beobachter positiv, aber wer rechnen konnte, schaute sich skeptisch die Listen der Abgeordneten an, die vermutlich im Dezember mit Nein stimmen würden. Je nachdem, wie pessimistisch die jeweiligen Prognosen sind, könnten der Regierung derzeit im allerschlimmsten Fall fast 120 Stimmen fehlen. Auch die Märkte waren skeptisch: Das Pfund verlor stark an Wert, britische Bankaktien gaben nach.

In einer früheren Version des Textes wurde ein Tweet zitiert, den wir dem Ehemann von Theresa May zugeordnet haben. Dabei handelte es sich jedoch um einen Satire-Account. Deshalb haben wir die Passage gelöscht.

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Quelle:
SZ vom 16.11.2018
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