Süddeutsche Zeitung

Sicherheitslücken im Justizvollzug:Wieder flieht ein Häftling aus der JVA Bochum

Lesezeit: 3 min

Von Anna Ernst

Mit einem selbst gebauten Gestänge hat er die meterhohe Mauer erklommen, irgendwie hat er es geschafft, nicht im Stacheldraht hängenzubleiben. Dann ist Aleksander E. in die Freiheit gesprungen. Von der Gefängnismauer hinunter auf die Castroper Straße, die direkt zum Stadion des VfL Bochum führt. Als ein irritierter Zeuge geistesgegenwärtig mit dem Handy die Polizei anruft, rennt E. längst davon. Seitdem wird der flüchtige Häftling aus der JVA Bochum gesucht.

Helikopter, Hundestaffeln und "enorm viel Manpower", all das, so ein Polizeisprecher, habe nichts genützt. Seit Donnerstagabend gibt es von Aleksander E. keine Spur mehr. Wegen eines Überfalls auf ein Juweliergeschäft saß er seit 2012 in Haft. Nun könnte er sich abgesetzt haben.

Die Bochumer Justizvollzugsanstalt gerät damit einmal mehr in die Schlagzeilen. Zwischen 2011 und 2013 wurde das Gefängnis aufgrund der damals gehäuft aufgetretenen Ausbrüche als "Pannenknast" bekannt. Ein Häftling war durch ein Oberlicht entkommen, ein anderer sprang in die Tiefe, ein weiterer schaffte es zumindest bis auf den Dachboden des Gefängnisses, nachdem er seine Gitterstäbe durchgesägt hatte. 2013 schließlich gelangte ein Untersuchungshäftling mit einer Besuchermarke an den Justizbeamten vorbei ins Freie. Die Aufsichtsbehörde zog Konsequenzen: Ein JVA-Leiter wurde kurz vor seiner Pensionierung suspendiert.

Die Justiz unterscheidet zwischen echten Gefängnisausbrüchen und der Gesamtzahl der aus der Haft geflüchteten Personen, etwa aus dem offenen Vollzug, aus Krankenstationen oder wenn Straftäter von einem Hafturlaub nicht mehr zurückkehren. Alle Vorfälle fassen die Behörden unter dem Begriff "Entweichungen" zusammen. Für 2017 weist die Statistik des Bundesjustizministeriums bundesweit 380 Entweichungen aus - bei einer Gesamtzahl von mehr als 34 000 Häftlingen, die in deutschen Anstalten einsitzen. Nur bei acht dieser Fälle handelte es sich um einen Gefängnisausbruch. Betrachtet man den Zeitraum von 2007 bis 2017, waren es insgesamt 111 Gefangene, die aus Justizvollzugsanstalten entkommen konnten.

Wie erfindungsreich Häftlinge sind, die den Ausbruch aus dem geschlossenen Vollzug wagen, zeigt der jüngste Fall aus Bochum deutlich. Aleksander E. hatte sich durch gute Führung das Vertrauen der Vollzugsbeamten erarbeitet. Anzeichen dafür, dass er einen Ausbruch plante, seien nicht bekannt gewesen, heißt es. Vielmehr war der 42-Jährige sogar mit einer besonderen Funktion betraut gewesen. Als "Sportwart" in der gefängniseigenen Turnhalle war er für die Instandhaltung der Sportgeräte zuständig. Nach einer Trainingseinheit, so vermuten Polizei und Gefängnisleitung, konnte er unbeobachtet auf die Empore der Sporthalle gelangen und durch ein Oberlicht auf das Vordach der Halle steigen. Von dort gelangte er in den Innenhof. Mit Teilen von Sportgeräten soll er sich eine Art "Steighilfe" gebaut haben, um die große Außenmauer zu erklimmen.

Für Karin Lammel, die Leiterin der JVA Bochum, kommt der neue Ausbruch zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Erst in der vergangenen Woche hatte sie ihre Stelle angetreten. In dem Gefängnis, das in der Ruhrgebietsstadt wie die gleichnamige Straße nur als "Krümmede" bekannt ist, war sie alledings früher schon einmal beschäftigt. Nach den Ausbrüchen der vergangenen Jahre habe man deutliche bauliche Veränderungen vorgenommen, sagt sie. Augenscheinlich sei das noch nicht genug gewesen. "Wir werden jetzt eine sehr intensive Detailprüfung vornehmen, alles hinterfragen und die entsprechenden Sicherheitslücken schließen", sagt die 57-Jährige.

Erbaut im Stile des Panoptikums

Bei einem alten Gefängnis wie der "Krümmede", das mehr als 100 Jahre alt ist, sind zusätzliche Sicherheitseinrichtungen aber ein immenser Aufwand, fügt eine Sprecherin der JVA hinzu. Sanierungsmaßnahmen und Baustellen stellten zudem mögliche Sicherheitslücken dar. Erbaut wurde die JVA Bochum als "Königlich Preußisches Centralgefängnis" noch im Stil des Panoptikums, der damals als besonders fortschrittlich galt. Der englische Philosoph Jeremy Bentham hat diese Konstruktion schon 1787 erdacht: Von einem zentralen Wachturm aus gehen sternförmig die Trakte mit den Zellen ab. Ein einziger Wärter sollte so möglichst viele Gänge im Blick haben. Heute allerdings ist diese Art der Unterbringung veraltet.

Das Gefängnis in der Nähe des VfL-Stadions ist eine von 36 Haftanstalten in Nordrhein-Westfalen. Einige stammen noch aus der Kaiserzeit. "Diese Anstalten haben uns gute Dienste geleistet, aber entsprechen nicht mehr dem heutigen Standard", sagte Justizminister Peter Biesenbach (CDU) bereits im vergangenen Jahr. Hinzu kommen Gefängnisse, die in der Betonbauweise der 60er- und 70er-Jahre errichtet wurden und jetzt ebenfalls sanierungsbedürftig sind. Bei der seit 2016 erstmals wieder gestiegenen Zahl der Häftlinge sei das für das Bundesland ein enormer logistischer Aufwand. Wenn umgebaut wird, müssen Häftlinge aus Zellentrakten ausziehen und verlegt werden. Das führt zu Überbelegungen in anderen Haftanstalten.

Als Soforthilfe zur Verbesserung der Haftbedingungen und der Sicherheit hat der Minister eine "Task Force" gegründet, die Konzepte für Umbauten erarbeiten soll, und neue Stellen im Vollzug geschaffen. Mittelfristig aber, so räumte der Minister schon vergangenes Jahr ein, sei es notwendig, komplett neue Gefängnisse zu bauen.

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