Süddeutsche Zeitung

Amokfahrt in Volkmarsen:Eine Stadt lebt weiter

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Nach mehr als einem halben Jahr endet der Prozess gegen den Mann, der mit seinem Wagen in einen Karnevalsumzug gefahren sein soll. Obwohl es nun ein Urteil geben wird, quält die Menschen nach wie vor die Frage nach dem Warum.

Von Gianna Niewel, Frankfurt

Hartmut Linnekugel kann sich an den ersten Prozesstag erinnern, natürlich kann er das, es ging schließlich um seine Stadt, um Volkmarsen, es ging um Menschen, die am Rosenmontag 2020 Karneval feiern wollten und angefahren wurden, umgefahren, von einem Mann in einem silbernen Mercedes.

Eltern, die am Straßenrand schunkelten, Kinder, die sich nach Süßigkeiten bückten.

Hartmut Linnekugel weiß auch noch, wie der Staatsanwalt die Anklage verlas, versuchter Mord in 91 Fällen und gefährliche Körperverletzung, die Zahl wurde während des Verfahrens auf 88 Fälle korrigiert. Der Mann habe die Absicht gehabt, "auf offener Straße zu töten". Linnekugel erinnert sich auch an seine Hoffnung, dass sich die eine Frage klären würde, die alle beschäftigt: Wieso tut jemand das?

An diesem Donnerstag wird das Urteil erwartet, mehr als ein halbes Jahr nach Beginn des Prozesses, aber die Menschen in Volkmarsen haben noch immer keine Antwort. Der Angeklagte hat geschwiegen. Wie geht eine Stadt damit um?

Hartmut Linnekugel ist 60 Jahre alt und seit 23 Jahren Bürgermeister von Volkmarsen. Am Rosenmontag 2020 stand er selbst auch auf einem Wagen, Motto: Deutsche Einheit, er war verkleidet als Michael Gorbatschow. Während sie sich durch die Straßen schlängelten, klingelte erst das Handy des Stadtbrandinspektors, ein Verkehrsunfall, dann das des Wehrführers, irgendwas stimmte da nicht. Linnekugel lief los.

"Ein Bild des Grauens"

Das war kein Verkehrsunfall, da war ein Mann in den Umzug gefahren. Zuerst in die Laufgruppe "Wilde 13", manche Menschen streifte er mit dem Außenspiegel, andere traf er frontal, sie schleuderten über das Autodach, er fuhr weiter, immer weiter, und als er nach 42 Metern anhielt, als eine Frau versuchte, den Zündschlüssel des Wagens zu ziehen, habe er sie gewürgt. Erst mehrere Männer konnten ihn festhalten. Unter dem Auto lagen Kinder. "Das war ein Bild des Grauens", sagt Linnekugel.

In den Tagen danach wurden die Zeuginnen und Zeugen befragt, 150 Menschen waren betroffen, 28 mussten stationär behandelt werden, zwei waren lebensgefährlich verletzt. Schädel-Hirn-Traumata, Trümmerbrüche, Prellungen. Im Rathaus saßen aber auch Seelsorger, die nicht wissen wollten, wie schnell das Auto in die Menschen gerast sein könnte, mit 50 oder mit 60 Kilometern pro Stunde, die einfach nur zuhörten.

Volkmarsen liegt im Norden von Hessen, eine Stadt mit viel Fachwerk, einem Heimatverein, einer Burg, hier leben 6900 Menschen, und wenn man schon so lange Bürgermeister ist wie Hartmut Linnekugel, kennt man die meisten. Er kennt auch den Angeklagten: ein unauffälliger Mann, zur Tatzeit 29 Jahre alt. Kurz vorher soll er seinen Job als Hilfsarbeiter verloren haben, in seiner Wohnung fanden die Ermittler Rechnungen für Wodkaflaschen, mal eine, mal zwei, einen Hinweis auf ein mögliches Motiv aber fanden sie nicht.

Seit Februar 2020, sagt der Bürgermeister, sei seine Stadt durch vier Phasen gegangen. Die erste: Schock. Nach ein paar Tagen, als sie über ihre Erinnerungen gesprochen hatten, als sie vielleicht in der Kirche eine Kerze angezündet hatten, waren viele erleichtert. Immerhin ist niemand ums Leben gekommen. In der dritten Phase wurde aus dieser Erleichterung Wut auf den Mann, und jetzt, in der vierten Phase, wünschten sich viele, dass das Gericht ein Urteil spricht.

"Ich würde fast sagen, die Menschen sehnen das herbei, dass es ein gerechtes Urteil gibt."

Was wäre denn gerecht?

"Ich bin kein Jurist, aber es hieß ja, lebenslänglich."

Wenn der Prozess beendet ist, sagt er, sei das für die Stadt ein Abschluss. Dann müssten sie sich nicht mehr an das erinnern, was war, sondern könnten sich auf das freuen, was kommt. Im nächsten Jahr mussten sie Karneval absagen, wegen Corona, aber für die übernächste Session haben sie schon Pläne. Der Umzug wird nur noch durch die Innenstadt geleitet, in wichtigen Zufahrtsstraßen sind Sperren im Boden montiert. Karneval, sagt Hartmut Linnekugel, werden sie sich nicht nehmen lassen.

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