Süddeutsche Zeitung

Lesung:Ein Kind verschwindet im Tunnel

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Mehr als 30 Jahre nach seinem Erscheinen in Israel gibt es Zeruya Shalevs erschreckend aktuellen Debütroman "Nicht ich" nun auch auf Deutsch. Ein Abend im Münchner Marstall.

Von Jutta Czeguhn

"Am Tag, an dem mein Mann schwanger wurde, war der Geliebte eingeschlafen und war sieben Tage lang nicht mehr wach zu kriegen. In der zweiten Woche betrug die längste Zeit, in der er wach bleiben konnte, genau eine viertel Stunde." Sibylle Canonica liest mit beiläufiger Lakonie, einem fast rotzigen Ton, hastig. Von der Publikumstribüne kommt immer wieder ein glucksendes Lachen, über Zeruya Shalevs Gesicht huschen dann Blitze eines feinen Lächelns. Im Münchner Marstall ist alles arrangiert wie bei einer dieser üblichen "Wasserglas-Lesungen": Für Shalev, Residenztheater-Schauspielerin Canonica und Moderatorin Rachel Salamander steht etwas zu trinken bereit . Und der Abend läuft geschmeidig nach den klassischen Regeln; Begrüßung, Fragen, Antworten, Textpassagen, Schlusswort, Applaus, Signieren. Und doch ist dann alles besonders.

Die Bücher der israelischen Schriftstellerin - über die Jahre hatte man sich da beim Lesen eine etwas faule Konsumhaltung angewöhnt. Denn Zeruya Shalev lieferte, seit Erscheinen ihrer "Liebesleben"-Trilogie in den Nullerjahren, verlässlich einen Weltbestseller nach dem anderen. Sensible, scharfsinnige, sprachvirtuose Romane über Frauen gefangen in toxischen Paarbeziehungen, Identitätskrisen, über die israelische Gesellschaft in all ihrer Komplexität. Und nun, erstmals auf Deutsch, dieses verstörend andere Buch, "Nicht ich", ihr Erstling, in Israel 1993 erschienen.

Die Kritiker des Landes (gendern wäre hier definitiv nicht angebracht) reagierten damals mit Schnappatmung und hilfloser Aggression. Was sollte das, dieser furiose Seelenstrip einer jungen Frau, überfordert von ihrer Rolle als Mutter, Ehefrau, Tochter? Zudem von einer formalen Maßlosigkeit, einem Spiel mit den wirren Ingredienzien der literarischen Postmoderne, sich allen Regeln linearer Erzählhandlung verweigernd, neurotisch, obszön, irgendwie unlesbar.

Im Gespräch mit Rachel Salamander verrät Shalev, wie diese Anfeindungen sie damals, als 32-jährige junge Mutter, tief kränkten und in eine Schaffenskrise trieben. Und wie nach Erscheinen des Buches auch ihre Ehe in die Brüche ging. Mehr als 30 Jahre lang habe sie das Buch nicht einmal mehr aufschlagen können, alle Anfragen von Verlagen auf Wiederveröffentlichung abgewehrt. Nach dem Schreiben ihres letzten Romans, der im Deutschen den Titel "Schicksal" trägt und tief einsteigt in die israelische Geschichte, habe sie plötzlich Mut und Neugierde verspürt, ihr Debüt wieder zur Hand zu nehmen. "Als wenn sich ein Kreis geschlossen hätte."

Ein Text, wie gemacht fürs Theater

Für die Erstveröffentlichung auf Deutsch (Berlin Verlag) hat Shalev eng mit ihrer kongenialen Übersetzerin Anne Birkenhauer zusammengearbeitet und, wie sie sagt, einige wenige "sachte Änderungen" vorgenommen. Ohne dem Text allerdings seine rohe Direktheit, dieses Überfordernde zu nehmen. Es ist ein Text, den man hören muss, agiert sehen will. Ein Bühnentext. Wie gemacht für das Theater heute. Sibylle Canonica hat einen Vorgeschmack geliert.

Eine Frau verlässt ihre Familie. Tut sie das? Wurde ihre kleine Tochter entführt? Von Soldaten? Durch einen Tunnel? Nach dem 7. Oktober, nach dem Massaker der Hamas-Terroristen an der israelischen Bevölkerung, den Geiselnahmen, liest sich das wie das Wahrwerden eines Albtraums. Als sie ihr Buch Anfang der Neunzigerjahre schrieb, erzählt Shalev, habe es Terrorattacken gegeben. Sie selbst wird später einen Selbstmordanschlag auf einen voll besetzten Bus in Jerusalem schwer verletzt überleben. Doch nun, es sei, als höre man in den Ereignissen vom 7. Oktober das Echo der gesamten jüdischen Geschichte widerhallen. In ein paar Monaten, verrät Zeruya Shalev, wird ihr mehr als 30 Jahre alter Roman auch in Israel wiederveröffentlicht.

In ihrem Land wird ihre Stimme gehört, sie nutzt sie. Für die Geiseln. Gegen die Regierung. Mitte Januar hat Zeruya Shalev bei einer Demonstration vor 300000 Menschen in Tel Aviv gesprochen und sich direkt an Benjamin Netanjahu gewandt: "Bring sie jetzt nach Hause, sonst können wir diesen Ort nicht unser Zuhause nennen." Sie könne nicht zu Hause sitzen und abwarten.

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