Süddeutsche Zeitung

Jubiläum der Vertriebenen:Nieselregen im Barackenlager

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Vor 70 Jahren sind die ersten Menschen aus Osteuropa in Geretsried angekommen. Bei der offiziellen Feierstunde erinnern sich Zeitzeugen an ihren Ankunftstag und die ehemalige Heimat.

Von Felicitas Amler, Geretsried

Es ist der Abend der alten Geretsrieder - in beiden Bedeutungen des Wortes. Menschen wie Hertha Kugler, 85 Jahre alt, oder Walter Pilz, 83, sprechen am Donnerstagabend im restlos überfüllten großen Sitzungssaal des Geretsrieder Rathauses über Anlass und Hintergrund dieser Feierstunde. Es ist der 70. Jahrestag der Ankunft der ersten Vertriebenen im Lager Buchberg bei Geretsried. Nach der Kranzniederlegung der Eghalanda Gmoi (Egerländer Gemeinde) und vor der Eröffnung einer Sonderausstellung im Stadtmuseum trifft man sich, um der Geretsrieder Aufbaugeneration zu gedenken. Jener Menschen, die, wie Bürgermeister Michael Müller (CSU) sagt, "alle sehr stolz sein können auf das Ergebnis dieser Entwicklung".

Hertha Kugler war 15, als sie und ihre Familie Graslitz im Egerland, heute Kraslice, verlassen mussten. Sie kramt erkennbar in den Erinnerungen, hat die Augen meist geschlossen, als sie spricht, holt hier ein Bild hervor - vom Vater, der so sehr darunter gelitten habe, dass er seine geliebte Heimat verlassen musste -, und dort eine Impression - wie hart die Holzpritschen waren in jenem Lager in Graslitz, in dem man auf die Abfahrt warten musste. Präzise hat sie die Summe des Aussiedlungsgeldes - 1000 Mark - parat, und die Zahl der Waggons, die in Allach aufgeteilt wurden: 21 nach Pfaffenhofen, 19 nach Wolfratshausen. Man ahnt, was hinter den geschlossenen Lidern vor sich geht, als sie die Fahrt von Wolfratshausen ins Ungewisse beschreibt: "Den Tag werde ich nie vergessen. Die Krähen haben geschrien, und Nieselregen war." Dann die Ankunft an einem Barackenlager: "Es war fürchterlich."

Zwei rote Krücken lehnen neben Hertha Kugler: Die 85-Jährige ist eigens aus der Reha, der sie sich nach einer Hüftoperation unterzieht, zu dieser Feierstunde gekommen. So wichtig ist es ihr wie anderen Zeitzeugen, das Vergangene zu erzählen, damit es bewahrt werde. So erklärt Werner Sebb, der den Abend moderiert, auch, warum er Walter Pilz, den Kreisobmann der Sudetendeutschen Landsmannschaft, gebeten hat, einen Abriss der Geschichte jener deutschen Volksgruppe zu geben.

Pilz spricht von einer 800-jährigen Geschichte und konzentriert sich stark auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Er betont das Ausbleiben eines Selbstbestimmungsrechts der Deutschen im damals neuen tschechoslowakischen Staat, die "Entnationalisierung" der Deutschen, wirtschaftlich wie sozial, und schildert die Spannungen als "unerträglich". Nach dem Münchner Abkommen 1938 sei "die Freude über die Befreiung von der Fremdherrschaft" groß gewesen. Doch bald sei klar geworden, dass es Hitler weniger um die Rechte deutscher Menschen gegangen sei als um Machtpositionen. Pilz überspringt den Zweiten Weltkrieg und sagt, "angesichts der grauenhaften Bilder aus den deutschen Konzentrationslagern" habe sich die Weltöffentlichkeit weniger um "das Verbrechen der Vertreibung" gekümmert.

Bürgermeister Müller hatte zuvor die Vertreibung als "schier unvorstellbar grausam und hart" geschildert, allerdings auch davon gesprochen, dass sie die von den Alliierten als adäquat angesehene Antwort auf den Krieg gewesen sei, "mit dem Nazi-Deutschland den halben Kontinent überzogen hatte". Seine Konsequenz aus der Geschichte ist ein Appell: "Setzen wir ein Zeichen für die Heimat und gegen Krieg und Vertreibung!" Ähnlich äußert sich Landrat Josef Niedermaier, der die Integrationsleistung der Geretsrieder hervorhebt und sagt, es gehe darum, "Zeitzeugen und Zeithandelnde zu sein", die Vertreibungen verhindern.

Wolfgang Pintgen, Sprecher des AK Historisches Geretsried, verwahrt sich vor "Gleichmacherei und Beliebigkeit". So lehnt er Äußerungen ab wie "ihr seid Muslime, Farbige, aber wir sind ja alle Menschen". Es gehe vielmehr um eine starke eigene Identität als Grundlage kultureller Vielfalt. Den Vertriebenen habe man seinerzeit ihre Identität, ihren Stolz und ihre Fähigkeiten, etwas Neues aufzubauen, nicht nehmen können. Sie dürften sich heute nicht vorhalten lassen, sie verharrten "im Ewiggestrigen".

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SZ vom 09.04.2016
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