Süddeutsche Zeitung

Gespaltenes Verhältnis:Die unsichtbare Grenze

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Seit fast 50 Jahren gehören die beiden Altlandkreise Bad Tölz und Wolfratshausen nun schon zusammen. Trotzdem gibt es zwischen dem Norden und dem Süden immer wieder Neid und Zwist - das zeigt auch jetzt wieder die Debatte um die Wolfratshauser Kreisklinik.

Von Von Claudia Koestler und Florian Zick

Um vielleicht mal ein paar gastronomische Wegpunkte zu nehmen: Vom Rittergütl in Irschenhausen bis zum Gasthof Post in Vorderriß ist es laut Routenplan über eine Stunde Fahrt. Einmal vertikal durch den Landkreis, von Norden nach Süden. Das ist schon eine ordentliche Strecke. Fast in der gleichen Zeit kommt man von Bremen nach Hamburg. Von Köln nach Düsseldorf ist es sogar kürzer - oder anders ausgedrückt: Kölsch und Altbier sind sich eigentlich näher als sich das in Bad Tölz-Wolfratshausen der Nord- und der Südlandkreis sind.

Noch immer gibt es eine gewisse Spaltung. Das merkt man vor allem jetzt wieder, da es um die Zukunft der Kreisklinik in Wolfratshausen geht. Das Krankenhaus soll umstrukturiert werden und wird dadurch vermutlich etwas schrumpfen. Aber so etwas sei man im Nordlandkreis ja schon gewohnt, heißt es dazu in den sozialen Medien. Die Gegend um Wolfratshausen werde von Landrat Josef Niedermaier (Freie Wähler) schon lange nur noch wie ein Stiefkind behandelt, ist da zu lesen. Und dann auch noch dieser Begriff: der "Tölzer" Landrat. Da sei es doch klar, dass man im Norden nicht so wichtig genommen werde.

Tatsächlich rühren diese Befindlichkeiten aus einer Zeit her, als der Landkreis Bad Tölz und der Landkreis Wolfratshausen noch getrennt voneinander waren. Erst mit der Gebietsreform 1972 wurden diese beiden Einheiten miteinander verschmolzen. Der kürzlich verstorbene Otmar Huber (CSU) wurde damals das erste gemeinsame Oberhaupt in diesem Großlandkreis. Das gemeinsame Landratsamt wurde in Bad Tölz angesiedelt. Und mit dieser Entscheidung wurde mittig durch den Landkreis ein Graben gezogen, der ein Stück weit auch heute noch existiert, wie man an der Klinikdebatte derzeit wieder beobachten kann.

Damals gab es noch keine Kfz-Zulassungsstelle in Wolfratshausen. Die Reisepässe wurden auch nicht in den einzelnen Rathäusern ausgestellt. Wenn ein Behördengang anstand, musste man also zum Beispiel auch als Ickinger runter nach Bad Tölz. Eine gute halbe Stunde Fahrt, manchmal nur für ein Blatt Papier - das hat vielen gestunken.

In Schäftlarn kann man eine ähnliche Geschichte erzählen. Bis zur Gebietsreform hat die Gemeinde noch zum Altlandkreis Wolfratshausen gehört. "95 Prozent von uns wollten auch bei Wolfratshausen bleiben", erinnert sich Altbürgermeister Erich Rühmer. Geholfen hat das nichts. Schäftlarn gehört seit 1973 zum Landkreis München. Vor allem auf den Bauernhöfen in Hohenschäftlarn, wo die Alteingesessenen leben, sei das schon noch ein Thema, sagt Rühmer. Als Protestmittel kann man sein Auto seit ein paar Jahren immerhin wieder mit den Kfz-Kennzeichen von damals zulassen. Damit kann man seine alte Verbundenheit demonstrieren. So fährt auch Schäftlarns amtierender Bürgermeister Christian Fürst (CSU) ein WOR-Kennzeichen.

In Bad Tölz-Wolfratshausen sind die Kennzeichen auch ein Thema. Im Norden sieht man viel WOR, im Süden fast nur TÖL. Und es gibt noch viele andere Dinge, die den Landkreis in zwei Hälften teilen: Hier der vergleichsweise dicht besiedelte Norden, dort der landschaftlich wunderschöne Süden; südlich von Königsdorf sind die Maibäume naturbelassen, nördlich davon weiß-blau; im Norden bekommt man eine Pfannkuchensuppe, so auf Höhe des Kochelsees wird in den Wirtshäusern öfter auch eine Frittatensuppe angeboten - sprachlich geht's da schon stark in die österreichische Richtung.

Wie das alles zusammenwachsen kann, diese Kernschmelze - das könnte eine Kommune eigentlich ganz besonders vorleben: Königsdorf. Die knapp 3200-Einwohner starke Gemeinde liegt so ziemlich genau in der Mitte des Landkreises. Sie ist damit prädestiniert, das verbindende Glied in der Kette zu sein. "Historisch gesehen gehört Königsdorf eigentlich zum Altlandkreis Wolfratshausen", sagt Marlies Hieke, frühere Heimatmuseumsleiterin und Mitautorin des Königsdorfer Heimatbuchs. "Aber was ich erlebe, ist, dass sich viele Königsdorfer trotzdem eher nach Tölz orientiert haben - und das auch noch immer tun." Zwar hegten die Königsdorfer durchaus Sympathien für Wolfratshausen und den Norden. Und wenn man dort zur Schule gehe oder seinen Arbeitsplatz habe, nutzten viele den Weg auch gleich für andere Dinge des Alltags. Da stecke eben ein gewisser praktischer Gedanke dahinter. Aber: "Wenn man flanieren will, wenn man die Freizeit nutzen will, sich quasi etwas gönnen will, dann zieht es einen eben doch nach Tölz", sagt Hieke. Es sei eben eine Gefühlssache: Tölz sei, das könne man nicht abstreiten, "einfach schöner, größer, ja, attraktiver" und habe einen ganz besonderen Charme. "Da ist mehr Herz", sagt Hieke. "Damit ist halt schwer zu konkurrieren."

Das habe auch geografische Gründe: Wolfratshausen habe sich eben nicht so entfalten können auf dem schmalen Streifen zwischen Bergwald und Loisach, während Tölz mit der Marktstraße als Prachtboulevard klotzen könne. Königsdorfer dürfen übrigens frei entscheiden, in welcher Stadt die Kinder zur Schule gehen. Von den Straßenverbindungen her seien der Norden wie der Süden eigentlich gleich gut zu erreichen, sagt Hieke. "Und da überlegen halt manche, wo hat's denn einen Mehrwert - und das ist halt dann doch oft der Freizeitwert im Süden." Wobei es inzwischen nocheinen Emporkömmling gibt, die aufstrebende Stadt Geretsried. Die ist für Königsdorfer noch weitaus besser zu erreichen als Tölz oder Wolfratshausen.

Landrat Josef Niedermaier kennt die Phantomschmerzen, unter denen der Nordlandkreis seit der Gebietsreform leidet. In einem Markenfindungsprozess für die Wirtschaftsverbände im Münchner Süden wurde vor vier Jahren schon einmal der Name "Münchner Oberland" vorgeschlagen. Und weil Bad Tölz-Wolfratshausen ohnehin so sperrig ist, hätte Niedermaier einen solchen Namen auch für den Landkreis gut efunden. Diese Idee kam nicht wirklich an - nicht in Tölz und nicht in Wolfratshausen. Die immer wieder aufkommenden Zwistigkeiten zwischen Nord- und Südlandkreis hält Niedermaier aber für "niederträchtig und saublöd". Es könne keine Rede davon sein, dass der Süden immer bevorzugt werde. In Wolfratshausen sei die Mehrzahl der Behörden ansässig - das Finanzamt, das Vermessungsamt, das Grundbuchamt. Schon unter Otmar Huber (CSU) sei Ende der Achtzigerjahre die Mülldeponie in den Süden nach Greiling gekommen. Und davon, dass die Kreisstraßen im Norden löchrig und im Süden picobello gepflegt seien, wie jetzt in den sozialen Netzwerken immer wieder nachzulesen ist, könne auch keine Rede sein. Am Pundinger Berg und bei Degerndorf, da sei gerade erst alles frisch saniert worden. Bei der Kreisstraße durch Reichersbeuern dagegen, da werde seit Ewigkeiten nur "geflickschustert", so der Landrat. "Wir sind ein Landkreis", sagt er. Das müsse auch in den Köpfen der Menschen endlich ankommen.

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SZ vom 15.05.2021
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