Süddeutsche Zeitung

Asylbewerber:München geht einen eigenen Weg mit den Flüchtlingen

Lesezeit: 4 min

Von Sven Loerzer

Ein Jahr, nachdem die ersten ausschließlich mit Flüchtlingen besetzten Züge nach München rollten, steht die Landeshauptstadt vor einer gewaltigen Aufgabe: Rund 4000 der mehr als 12 000 Flüchtlinge in staatlichen und städtischen Unterkünften können mit einem Bleiberecht rechnen. Sie brauchen Wohnungen - wie auch die rund 6000 Wohnungslosen, die von der Stadt untergebracht werden. Große Anstrengungen stehen aber auch im Bereich Bildung, Ausbildung und Arbeitsvermittlung bevor: Etwa 60 Prozent der Flüchtlinge, die in München leben, sind nach Angaben des Sozialreferats noch keine 25 Jahre alt.

Schon das zeigt, welch hohe Erwartungen sich an den von OB Dieter Reiter vor einem Jahr versprochenen Gesamtplan zur Integration von Flüchtlingen knüpfen. Inzwischen hat das Sozialreferat einen ersten Rahmen für ein Konzept abgesteckt, das die Stadt in Zusammenarbeit mit allen Kooperationspartnern, die im Flüchtlingsbereich tätig sind, inhaltlich ausfüllen will. Bis Mitte nächsten Jahres soll der Plan fertig sein. Inzwischen bleibt die Stadt aber nicht untätig: Im Bereich Bildung, Ausbildung und Arbeit investiert München in den nächsten drei Jahren 21 Millionen Euro zusätzlich, um die Integration von Flüchtlingen voranzutreiben.

Mehr als 12 000 Flüchtlinge leben derzeit in Erstaufnahmeeinrichtungen, staatlichen Gemeinschaftsunterkünften, kommunalen Unterkünften und Einrichtungen für unbegleitete Minderjährige. In München ist der Anteil junger Flüchtlinge besonders hoch, weil Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern nach Deutschland kamen, bis Herbst vergangenen Jahres in der Zuständigkeit des Jugendamtes blieben, in dessen Bereich sie aufgegriffen worden sind.

Erst seit November werden sie nach dem bei Flüchtlingen geltenden Verteilungsschlüssel auf andere Bundesländer und Kommunen weiterverteilt. Waren vor einem Jahr noch fast 6000 minderjährige Flüchtlinge ohne Eltern in München, so ist die Zahl inzwischen auf knapp unter 3000 zurückgegangen.

"Das größte gesellschaftliche Risiko, das eine misslingende Integration birgt, ist ein Hinwenden vor allem junger Menschen zu radikalen Gruppierungen oder ein Abgleiten in die Kriminalität", hat das Sozialreferat seine Haltung begründet, sich auch um Flüchtlinge zu kümmern, die später das Land wieder verlassen müssen. Die Integrationsangebote von Bund und Land sind dagegen ausschließlich auf Flüchtlinge aus Ländern mit gesicherter Bleibeperspektive ausgerichtet. Dazu gehören derzeit Syrien, Irak, Iran und Eritrea.

Ohne Sprachkenntnisse keine Integration

Nach den Erfahrungen des Sozialreferats liegt ihr Anteil bei 36 Prozent der in München untergebrachten Flüchtlinge. "Für die übrigen Gruppen ist nach wie vor kein vom Bund finanzierter Allgemeinsprachkurs als wesentliche Voraussetzung selbst für gering qualifizierte Tätigkeiten am Arbeitsmarkt vorgesehen", bedauert Sozialreferentin Dorothee Schiwy. Dabei sei auch bei Menschen mit ungesicherter Bleibeperspektive davon auszugehen, dass viel Zeit vergeht, bis ihre Verfahren abgeschlossen sind.

Am Anfang jeglicher Integration stünden jedoch Deutschkenntnisse, deshalb müsse die Lücke geschlossen werden, die Bundes- und Landesgesetze lassen. Der Stadtrat hat deshalb kürzlich beschlossen, das Angebot an städtisch finanzierten Deutschkursen von bisher rund 1600 Plätzen in diesem Jahr um 1200 Plätze zu erhöhen. In den Folgejahren wird das Budget um insgesamt fünf Millionen Euro für 2000 Plätze aufgestockt. Rund 2000 Kinder und Jugendliche besuchten im vergangenen Schuljahr Übergangsklassen an Grund- und Mittelschulen, knapp 1000 junge Flüchtlinge Berufsschulen.

Um jungen Flüchtlingen einen schnellen Zugang zu Bildung, Ausbildung und Arbeit zu ermöglichen, will die Stadt eine zentrale Erstclearingstelle mit insgesamt sieben Mitarbeitern einrichten. Sie sollen bei allen Flüchtlingen ab 16 Jahren den individuellen Bildungshintergrund und vorhandene Kompetenzen erfassen, um die passende Förderung zu vermitteln. Das "Integrationsberatungszentrum Sprache und Beruf" (IBZ) soll durch fünf zusätzliche Stellen die Möglichkeit erhalten, Flüchtlinge mit unsicherer Bleibeperspektive zu beraten und ihnen den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu eröffnen.

Auch die Volkshochschule bekommt zusätzliche Stellen, um Deutschkurse und das Qualifizierungsangebot für jugendliche Flüchtlinge zu sichern und auszubauen. "Integration beginnt vom ersten Tag an", sagt Sozialreferatssprecher Ottmar Schader, "und braucht die Unterstützung der Stadtgesellschaft". Versäumnisse am Anfang seien später nur schwer und kostenintensiv aufzuholen, das zeigten die Erfahrungen mit den Flüchtlingen der 1990er Jahre.

Das Münchner Rathaus setzt deshalb auf einen Gesamtplan zur Integration, der fünf Handlungsfelder von der Unterbringung über Bildung, Ausbildung, Arbeitsmarkt bis hin zum Wohnen umfassen soll. Erstellt wird er von fünf Arbeitsgruppen, dazu gibt es eine Koordinierungsgruppe und ein stadtweites Lenkungsgremium. Bis Mitte 2017 wird es wohl dauern, bis der Planentwurf fertig ist. Berlin dagegen hat bereits einen "Masterplan" vorgelegt.

Dass es in München länger dauert, stört Andrea Betz, Leiterin der Abteilung Hilfen für Flüchtlinge, Migration und Integration bei der Inneren Mission München, keineswegs, im Gegenteil: "Ich halte die Phase der Erarbeitung für sinnvoll." Das ermögliche nicht nur, die Wohlfahrtsverbände einzubeziehen, sondern die unterschiedlichsten Menschen, die an der Integration arbeiten. München sei "enorm gut aufgestellt" und habe ein erstaunlich großes Angebot.

Sich damit zu beschäftigen, sei sinnvoll für Aktive, um einen Überblick zu gewinnen, "was haben wir alles". Ähnlich sieht es Norbert Huber, Geschäftsführer der Caritas-Zentren. "Wir haben viele Akteure und viele Aktivitäten. Da wissen selbst die Fachleute gar nicht mehr, was es alles gibt."

Kein Platz für Schulsachen

Die Caritas betreut in Stadt- und Landkreis rund 7500 Flüchtlinge in 30 Unterkünften, die Innere Mission ist in 21 Häusern mit rund 5000 Flüchtlingen tätig. Viele Geflüchtete werden noch länger in den Unterkünften leben müssen, da Wohnungen schwer zu finden sind und die Bauprogramme nicht sofort greifen. Andrea Betz plädiert deshalb dafür, neue Angebote für alleinstehende Frauen und Familien mit psychisch oder körperlich beeinträchtigten Kindern zu schaffen. Ohnehin seien die Bedingungen für Kinder in den Unterkünften schwierig: "Da gibt es keinen Schreibtisch, keinen Platz für Schulsachen." Und kaum Ruhe zum Lernen.

"Wir bräuchten für Kinder und Jugendliche zusätzliche Räume und Angebote in den dezentralen Unterkünften", fordert Huber. Für die erfolgreiche Integration brauche man aber auch die Zivilgesellschaft, die deshalb bei der Erstellung des Plans einbezogen werden müsse. "Der Hype hat sich reduziert", sagt Betz, aber auch ein Jahr nach den Helfereinsätzen am Hauptbahnhof gebe es "unglaublich viele engagierte Menschen. Die Euphorie ist geblieben. Und viele, die nicht mehr aktiv sind, haben signalisiert, dass sie bei Bedarf wieder dabei sind."

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SZ vom 31.08.2016
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