Süddeutsche Zeitung

Stadtteilhistorie:Bier in der Milchkanne

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Geschichte und Geschichten: Eine Fotoausstellung im Kulturzentrum an der Wasserburger Landstraße zeigt, wie das dörfliche Trudering im Laufe der Jahre immer mehr großstädtische Züge annahm.

Von Ilona Gerdom

Peter Wagner spaziert durch das Truderinger Kulturzentrum. Hier und da kommt er ins Gespräch. Dann tippt er aufgeregt auf einen Bilderrahmen. Zu sehen ist ein Gebäude, Baujahr 1928/29: "Seit 81 Jahren wohne ich in diesem Haus!"

Im Februar 1941 zog Wagners Familie nach Waldtrudering. Damit lebt er fast so lange dort, wie Trudering zu München gehört: 90 Jahre als Stadtteil werden dieses Jahr gefeiert. Dafür hat Wagner mit dem Truderinger Kulturkreis und dem Bezirksausschuss Trudering-Riem eine Ausstellung organisiert. Beim Blick in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeigt sich: Der Bezirk wandelt sich nicht nur, sondern er wächst stetig.

Wagner zeigt eine Schwarz-Weiß-Aufnahme: Zwei Gestalten sind abgebildet. Die eine trägt einen Milchkrug. Der kleine Junge in der "dicken Windelhose" daneben, das sei er, sagt Wagner. Er erinnert sich, der Großvater, ein Arzt aus Köln, trank gerne Bier. Das musste man damals selbst bei der Wirtschaft abholen. In dem Fall in 700 Meter Entfernung bei der "Phantasie". Allerdings sollte keiner wissen, dass der Arzt Alkohol trank. Deshalb der Transport im Milchkrug. Den Feldweg, den der Eineinhalbjährige damals entlang ging, würde man heute nicht mehr erkennen: Aus Schotter am Boden ist längst Asphalt geworden, links und rechts des Birkhahnwegs stehen Wohnhäuser.

Als der kleine Wagner dort langmarschierte, gehörte Trudering seit beinah zehn Jahren zur Stadt München. Dazu geführt hatte die Situation der Gemeinde: Die Wirtschaftskrise hatte Spuren hinterlassen, die Arbeitslosigkeit war hoch, ein Drittel des Haushalts musste für "Fürsorgeleistungen" ausgegeben werden. Dazu kam, dass es schon damals Menschen nach Trudering zog: Von 1920 bis 1931 wuchs die Bevölkerung um das Dreieinhalbfache an. Daher wurde die Eingemeindung 1929 beantragt und drei Jahre später vom Münchner Stadtrat beschlossen.

Wagner deutet auf eine andere Abbildung. Sie zeigt die Gaststätte "Kuchelbauer". Dort, im Rückgebäude an der Togostraße 46 und 48, hat er seine ersten zwei Schuljahre verbracht.

Daneben gab und gibt es andere Schulen im Vierte,l zum Beispiel die schon 1892 eröffnete Schule am Lehrer-Götz-Weg, die Turnerschule oder die Feldbergschule. 2013 eröffnete das Truderinger Gymnasium an der Friedenspromenade. Aktuell entsteht in der Messestadt ein großer Bildungscampus mit Gymnasium und Realschule. Im Kuchelbauer-Haus findet schon lange kein Unterricht mehr statt. Es ist nicht einmal mehr da - abgerissen wurde es 1993.

Lange nach seiner Schulzeit begann Wagner 1997 mit der Gründung des Arbeitskreises Stadtteilgeschichte die Entwicklungen im Viertel zu dokumentieren. Heute bezeichnet er sich gerne mal als "tiefsten Kern des Stadtteilarchivs". Nicht zu Unrecht: In den vergangenen 25 Jahren hat er ein Archiv mit mehr als 6000 Fotos aufgebaut.

Die Fotos zeigen, wie das dörfliche Trudering großstädtische Züge annimmt. Ein Zeichen dafür ist das 1964 erbaute Hochhaus an der Wabula in Waldtrudering. Wichtige Stationen sind auch die Anbindungen an den öffentlichen Nahverkehr mit U- und S-Bahn. Und natürlich der Bau der Messestadt, der noch nicht abgeschlossen ist: Im Moment wird der fünfte Bauabschnitt mit 2500 Wohnungen geplant.

Siedlungen sollen auch an der Heltauer Straße und am Rappenweg entstehen - zusammen könnten es mehr als 3000 Wohnungen werden. Wie schon in Gemeindezeiten gehört Zuzug zu Trudering. Tatsächlich ist der 15. Stadtbezirk einer der am stärksten wachsenden.

Und wie findet das einer wie Peter Wagner? Der sieht es nüchtern: "Wenn ich mich beklagen würde, würde es auch nichts bringen." Das Material fürs Fotoarchiv wird so schnell jedenfalls nicht ausgehen.

Die Ausstellung im Kulturzentrum an der Wasserburger Landstraße 32 läuft bis Samstag, 28. Mai. Der Eintritt ist frei. Ein vom BA 15 finanziertes Begleitheft liegt vor Ort aus.

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