Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Aus den Augen, noch im Sinn, Folge 8:Aus dunkler Zeit

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Adolf Hitler als einer der Henker, die Jesus auf seinem Kreuzweg quälen: An diesem Sonntag ergibt sich die seltene Gelegenheit, Max Lachers Fresken in der Anastasia-Kapelle im Waldfriedhof zu sehen. Nun soll sie stärker ins Bewusstsein der Münchner gerückt werden

Von Berthold Neff

Es dauert eine Weile, bis sich die Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben. Und dann leuchtet ihnen, in matten Farben auf der Mauer, das Bild des Gekreuzigten entgegen. Wer die Anastasia-Kapelle im Waldfriedhof betritt, fühlt sich in eine Zeit versetzt, in der sich die frühen Christen, von den Machthabern verfolgt, in dunklen Höhlen versammeln mussten, um ihren neuen Glauben zu leben. Aber wieso tragen die Schergen, die Jesus Christus quälen und verhöhnen, braune und schwarze Uniformen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, wieso hat einer von ihnen eine Pistole im roten Halfter umgeschnallt?

Weil die Kapelle in einer Zeit gebaut wurde, in der es in Deutschland dunkel wurde, und weil der Münchner Maler Max Lacher die Fresken vom Kreuzweg und von der Auferstehung des Herrn erst kurz nach Kriegsende auf den Putz malte. Lacher war im Krieg dem Tod nur knapp entronnen, er schloss sich als Wehrmachtssoldat dem Widerstand an und wurde von den Nazis in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Vielleicht genau deshalb hat er einem der Schergen, jenem mit dem Braunhemd, der Krawatte und den Reitstiefeln, das Gesicht von Adolf Hitler verpasst. Der Mann, den man im Dritten Reich den Führer nannte, zerrt den gefesselten Jesus mit einem Strick vorwärts und hebt seinen Arm so ähnlich wie beim Hitlergruß - allerdings reckt er die Linke nach oben.

Drei Jahre nach Kriegsende, dem sogenannten Zusammenbruch, wirkte eine solche Darstellung offenbar provozierend, und zwar, wie es Hans Eckstein, der Kunstkritiker der Süddeutschen Zeitung am 30. November 1948 formulierte, für jemanden, "der sich mit Folterern und Henkern identifiziert, deren Existenz in grauen und schwarzen deutschen Uniformen doch wohl nicht gut bestritten werden kann".

In einer der letzten Novembernächte des Jahres 1948 wurde auf Lachers Fresken ein Anschlag verübt, eine der Fresken wurde mit Tinte beschmiert. Hans Eckstein schrieb in der SZ: "Man kennt die Barbaren zwar nicht mit Namen, aber man glaubt doch zu wissen, wie sie aussahen. Sie zerstörten nämlich ihr eigenes Bild, das dem Maler aus den Erlebnissen der jüngsten Vergangenheit mit so treffsicherer Drastik in den Henkern und Folterern darzustellen gelungen war." Die Täter hatten damals die verschlossene Tür der Kapelle aufgebrochen, und auch heute noch ist die Anastasia-Kapelle das ganze Jahr über durch eine Gitterwand versperrt.

Pater Devis Don Wadin, der Pfarrer von St. Hedwig, nestelt an seinem Schlüsselbund, dann öffnet er das Gitter und sagt: "Wir sollten die Kapelle viel öfter als nur für die Maiandacht nutzen." Er atmet den würzigen Duft der Bäume rings um die Kapelle im Waldfriedhof tief ein. "Dieser Ort hat eine spirituelle Aura", sagt der 48 Jahre alte Pfarrer, der aus Indonesien stammt, seit 23 Jahren in Deutschland lebt, Steyler Ordenspriester ist und vor zwei Jahren das Pfarramt in St. Hedwig übernommen hat, an der Hirnerstraße 1 in Sendling-Westpark, vom Waldfriedhof nur durch die Fürstenrieder Straße getrennt.

Die Anastasia-Kapelle wurde 1932 nach dem Plan des späteren Stadtbaurats Hermann Leitenstorfer errichtet, der kurz zuvor das Alte Technische Rathaus an der Blumenstraße erbaut hatte, das erste Hochhaus der Stadt. Vielleicht bezweckte die Stadt, den Gläubigen damit einen Orientierungspunkt im doch sehr weitläufigen Waldfriedhof zu bieten. Der Bau aus Stein wurde von Kardinal Michael von Faulhaber am 8. Juni 1933 geweiht, knapp ein halbes Jahr nach Hitlers sogenannter Machtergreifung.

Vor allem die älteren Gemeindemitglieder von St. Hedwig verbinden mit der Kapelle besondere Erinnerungen. Besonders für die Vertriebenen, die nach Kriegsende in München zwar eine neue Heimat fanden, aber zunächst keine Kirche, war die Kapelle wichtig. Viele Menschen aus dem damaligen Waldfriedhofviertel feierten dort lange Zeit den Gottesdienst, ein gedrungener Holzbau mit Glaswänden an den Seiten und ein paar Bänken im Inneren bot ihnen Schutz vor Wind und Wetter. Von 1960 bis 1962, als die neue Pfarrkirche fertig wurde, hielt die Pfarrei St. Hedwig in der Kapelle ihre Messen. Danach geriet die Anastasia-Kapelle etwas in Vergessenheit. Sie hat keinen Stromanschluss und damit auch kein Licht, verströmt ihren Zauber aber dennoch, wenn die Gläubigen zur Maiandacht dorthin kommen, ein Mal im Jahr.

Florian Thurmair, heute 65 Jahre alt, der als kleiner Bub mit seinen Eltern oft zum Gottesdienst in die Kapelle ging, erinnert sich noch gut an die besondere Atmosphäre, die schon auf dem Weg durch den verschneiten Waldfriedhof entstand. Seine Eltern Georg und Maria Luise, beide Schriftsteller und maßgeblich am "Gotteslob" beteiligt, dem Gebet- und Gesangsbuch der deutschsprachigen Katholiken, kamen mit ihren Kindern oft vom Lorettoplatz in die Kapelle. Auch er fände es schön, wenn das Gotteshaus öfter zugänglich wäre.

Bereits vor sieben Jahrzehnten, kurz vor dem Anschlag auf die Fresken, hatte man gefordert, die Kapelle zu öffnen. Im Münchner Merkur schrieb Richard Braungart am 10. September 1948: "Die Bilder sind nichts für zarte Nerven, denn die Ausdruckskraft des Mimischen und der Gesten, die an die ekstatischen Maler der Spätgotik erinnert, geht zuweilen bis an die Grenzen des Erträglichen." Diese Darstellungen seien jedoch "Dokumente unserer harten Zeit", heißt es weiter in der Zeitungsmeldung, "und man muß bedauern, daß diese bedeutende, umfangreiche Schöpfung den meisten unbekannt bleiben wird, da die Kapelle nicht allgemein zugänglich ist. Läßt sich das nicht ändern?"

Vielleicht schon. Und vielleicht gelingt es auch, eine Kostbarkeit wieder zum Leben zu erwecken, die derzeit verstaubt und leicht angefressen in der Kapelle liegt: die Orgel, deren satter Ton einst die Gottesdienste begleitete. Blasebalg, Windlade und Pfeifen stehen über der Sakristei in einer eigenen Kammer, sind aber "sehr stark verschmutzt", wie der Münchner Orgelbauer Andreas Wittmann konstatierte. Weil es sich bei dem Instrument um eine Rarität handelt, ein Werk des seinerzeit führenden Orgelbauers Carl Schuster, hat sich Wittmann bereit erklärt, die Orgel zu reparieren, ohne seine Arbeitszeit zu berechnen. Die Materialkosten schätzt er auf etwa 2000 Euro, das will die Kirchengemeinde durch eine Spendenaktion zusammenbringen. Klaus Eckardt, Leiter des Gospelchors von St. Hedwig, hat die Reihe "Musik + Worte" initiiert, bei der Musiker kostenlos auftreten, zum Beispiel am Sonntag, 15. September, sowie am 22. September, jeweils 17 Uhr. Ihren großen Auftritt hat die Anastasia-Kapelle aber bereits an diesem Sonntag, 8. September, beim Tag des offenen Denkmals. In Kooperation mit der Pfarrei St. Hedwig lädt der Geschichtsverein Hadern die Münchner von 10 bis 16 Uhr zum Besuch ein. Robert Dreher von den Städtischen Friedhöfen bietet um 11 und um 15 Uhr eine Führung an.

So holt man ein Kleinod aus dem Dunkel des Vergessens - und zeigt, wie ein Künstler nach dem Krieg Deutschlands dunkle Vergangenheit bewältigt hat.

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Quelle:
SZ vom 07.09.2019
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