Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender:"Wie eine zweite Mama"

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Anne Weiß vom Clean Projekt Neuhausen sorgt dafür, dass junge Menschen, die es im Leben schwerer haben, ihre Freizeit sinnvoll gestalten. Dank ihrer Hilfe können sie eine Ausbildung machen

Von Karin Kampwerth

Die Maßeinheit für den Appetit von jungen Männern wird in Neuhausen in Teilen bestimmt. Zwei Teile bedeuten, dass da einer schon sehr früh ohne einen Bissen aus dem Haus gegangen ist, um sich auf einen meist längeren Weg zur Arbeit aufzumachen - so wie der junge Mann, der um halb vier morgens aufgestanden ist, damit er pünktlich um fünf Uhr zum Praktikum in einem Handwerksbetrieb in Taufkirchen steht. Am Nachmittag lümmelt er müde und hungrig auf einem Stuhl vor Anne Weiß' Schreibtisch im Büro des Clean Projekts Neuhausen (CPN). Weiß schreibt "zwei Teile" auf einen kleinen mit der Hand ausgeschnittenen Zettel, vermerkt zusätzlich ein Getränk. Dann drückt sie den CPN-Stempel auf den Zettel und setzt ihre Unterschrift darunter.

Der Zettel ist ein Gutschein, mit dem sich die Jugendlichen vom CPN der Anzahl der notierten Teile entsprechend aus einer Bäckerei um die Ecke mit belegten Semmeln oder auch mal einem Stück Kuchen versorgen können. Wenig später steht der Nächste im Türrahmen zu Anne Weiß' Büro. Hochgewachsen, aber ein Schlacks. Gefrühstückt hätte er zwar auch nicht, sagt der junge Mann. Aber ein Teil reiche. Gut möglich, dass ihm was auf den Magen geschlagen ist. Denn Probleme haben die meisten genug, die ins CPN in der Andréestraße 5 gleich hinter dem Rotkreuzplatz kommen.

Anne Weiß beschriftet täglich und meist bis zum frühen Abend viele kleine Zettel mit einem oder zwei Teilen. Nebenbei hört sie sich die Sorgen der Besucher an. Wobei: Mit "nebenbei" wird man Weiß' Engagement nicht gerecht. Sie ist immer ganz Ohr für ihre Schützlinge, so darf man die meist jungen Männer durchaus nennen, die täglich nach der Schule oder Arbeit im CPN vorbeischauen. Anne Weiß, auch das darf man so sagen, ist trotz ihrer 81 Jahre multitaskingfähig. Zettel schreiben, Probleme anhören, Probleme lösen. Oder wenigstens die Sorgen nehmen.

Wie die von Bahjat. Seit 2013 lebt der 21-Jährige Iraker mit Eltern und Geschwistern in München. Als er noch zur Schule ging, hat er über Kumpel vom CPN erfahren. Hier bekam er nachmittags regelmäßig Lernhilfe. Mit Erfolg. Er schaffte einen guten Mittelschulabschluss und steht nun kurz vor der praktischen Prüfung zum Fahrzeuglackierer. Allein die 35 Euro für ein Werkstück, dass er während der Prüfung bearbeiten muss, kann er nicht aufbringen. Der Grund: Er lebt mit seinen Eltern, die Arbeitslosengeld II beziehen, in einer Bedarfsgemeinschaft. Die Folge: Von seinem Ausbildungsgehalt muss er abzüglich eines Freibetrages von 100 Euro 75 Prozent für deren Unterhalt zuschießen.

So geht es eigentlich allen Jugendlichen, die ins CPN kommen und sich in einer Ausbildung befinden. Tareq, 18, zum Beispiel, der Einzelhandelskaufmann bei einer Drogeriekette lernt, darf von seiner Ausbildungsvergütung 150 Euro behalten. Bahjat hat etwas mehr als 200 Euro zur Verfügung. Aber allein das Buch, mit dem er sich auf die Prüfung vorbereiten musste, hat schon 50 Euro gekostet. Nun hofft er, das Anne Weiß helfen kann. Oder Ghdwan, 20 Jahre alt und ebenfalls aus dem Irak: Er lernt gerade Automechatroniker und lebt mit Eltern und Geschwistern in einer kleinen Wohnung. Kürzlich brauchte er eine professionelle Zahnreinigung, damit der Karies nicht noch weiter Löcher in die Zähne frisst. 98 Euro kostete die Behandlung - kaum zu bezahlen von dem, was ihm vom Ausbildungsgehalt bleibt. Auch hier konnte Anne Weiß helfen, was häufig nur deshalb gelingt, weil es andere hilfsbereite Menschen gibt. Wie die Leserinnen und Leser der Süddeutschen Zeitung, die mit ihren Spenden an den SZ-Adventskalender das CPN unterstützen - auch während der Corona-Krise.

Anne Weiß ist eigentlich die Ruhe in Person. Aber an dieser Stelle schwankt sie zwischen Dankbarkeit für die Hilfe und Ärger über die ausbleibende oder zu geringe staatliche Unterstützung. "Wie sollte das denn ohne Spenden gehen?", fragt sie und schüttelt den Kopf mit dem burschikosen Kurzhaarschnitt. Wie man sich mit so wenig Geld auch noch Schulmaterial, Kleidung oder ein Mittagessen kaufen soll, von einer Fahrkarte für den MVV mal ganz zu schweigen, erschließt sich Weiß auch nach 27 Jahren Arbeit im CPN nicht.

1993 wurde der Trägerverein gegründet, 1996 konnte das CPN die Räume in Neuhausen beziehen und bis heute bleiben, dank eines "sehr humanen Vermieters", wie Anne Weiß sagt. Sie ist von Beginn an dabei, "alleine schon, weil ich immer für soziale Gruppenarbeit im Stadtviertel gekämpft habe", sagt sie. Auch nachdem die Sozialpädagogin, die im Jugendamt beschäftigt war, in den Ruhestand gegangen ist, ist sie dem CPN treu geblieben.

Waren es früher hauptsächlich Jugendliche mit Drogenproblemen, die im CPN betreut wurden, sind es inzwischen meist junge Menschen mit Fluchthintergrund. Doch das Prinzip ist immer gleich geblieben. Die Jugendlichen bekamen im CPN ein frisch gekochtes Mittagessen, im hauseigenen Fitnessraum konnte die Energie manchen Frusts in das Stemmen von Hanteln oder Training auf dem Laufband fließen. Die regelmäßigen Turniere im Fußball oder anderen Sportarten sorgten zuverlässig für Erfolgserlebnisse, die sich in der Schule oder auch in der Familie nicht immer gleich einstellen wollten. Und nicht zuletzt ist die Lernhilfe für viele der Schlüssel zum erfolgreichen Schulabschluss gewesen. "Tausendprozentig hat mir das geholfen, sonst wäre ich nicht so weit gekommen", sagt Ghdwan aus tiefster Überzeugung. Ohne die herzensgute wie bestimmte Tatkraft von Anne Weiß wären die Chancen der jungen Leute wohl sehr viel schlechter gewesen. "Wir verdanken Frau Weiß so viel", sagt Sadam, 21. Sogar an den Wochenenden käme sie oft ins CPN, um sich um die Nöte ihrer Schützlinge zu kümmern. "Sie ist wie eine zweite Mama für uns", fasst Bahjat die Bedeutung der 81-Jährigen für die rund 80 jungen Leute zusammen, die regelmäßig ins CPN kommen. "Alle freiwillig", wie Sadam betont.

Doch Corona setzt auch dem CPN zu. Denn es wird immer schwieriger, all das, was die Jugendlichen benötigen, noch zu bezahlen. "Am schlimmsten ist es mit den Lebensmitteln", sagt Anne Weiß. Vor Corona sei man von der Tafel unterstützt worden. Die aber habe die Arbeit einstellen müssen, weil viele Mitarbeiter zu Risikogruppen für das Virus gehörten. "Milch, Joghurt oder Obst, früher hatten wir davon immer reichlich", sagt Weiß. Auch das Mittagessen könne man im CPN nicht mehr anbieten. Deshalb die weißen Zettel mit den Teilen.

Essen, Fahrkarten, Schulmaterial - das alles kostet viel Geld, wobei der Verein schon an anderer Stelle Abstriche machen muss. So sei die auf drei Jahre begrenzte Finanzierung des Jugendamtes für die Lernhilfe ausgelaufen. Und auch vom Bezirk kommt kein Geld mehr, weil keine Drogenabhängigen mehr betreut werden, was absurderweise ja eine gute Nachricht ist, die ein Loch in die Kasse reißt.

Weil auf der anderen Seite die Kosten coronabedingt steigen, können keine Übungsleiter für den Fitnessraum bezahlt werden, der deshalb zu bleiben muss. Das Projekt ist umso mehr auf Spenden angewiesen. "Ohne den Adventskalender von der Süddeutschen könnten wir das alles gar nicht schaffen", sagt Anne Weiß.

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Quelle:
SZ vom 19.09.2020
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