Süddeutsche Zeitung

Schädlinge im Garten:Die Stinkwanze hat das bayerische Voralpenland erreicht

Lesezeit: 4 min

Nach Laubholzbockkäfer und Buchsbaumzünsler gibt es einen neuen Störer in den heimischen Gärten. Experten befürchten, dass Stinkwanzen zur Plage werden könnten.

Von Peter Haacke, Starnberg

Die kleine Wanze kann nicht tanzen, und sie lauert auch nicht auf der Mauer. Sie zieht sich jetzt lieber in Ritzen und Spalten zurück, denn sie friert nicht gern. In ihrer ostasiatischen Heimat, in Ostchina, Japan oder Korea, ist es viel wärmer. Doch die Marmorierte Baumwanze ist ein Überlebenskünstler, der längst auch in Europa auf Eroberungs- und Beutezug gegangen ist - zunehmend mit fatalen Folgen für Obst- und Gemüsebauern. Vor allem in südlichen und mittleren Regionen Europas hat man bereits schlechte Erfahrungen gemacht mit dem invasiven Winzling, der ganze Ernten vernichten und Schäden in Millionenhöhe verursachen kann. Doch nicht nur hier: Auch in Deutschland ist die Wanze auf dem Vormarsch und hat nun das bayerische Voralpenland erreicht.

Die Äpfel im Garten von Hella Wiemann sehen dieses Jahr irgendwie anders aus: Seit Jahrzehnten schon hegt und pflegt die rüstige Starnberger Seniorin ihre Bäume, doch die Äpfel sind nicht gerade schön: Die meisten Früchte haben braune Stellen, sind deformiert und viel zu klein. Ein Teil der Ernte verfault am Baum, die meisten Früchte sind angestochen. Hinter dieser Missernte dürfte ein Neozoon stecken - eine eingeschleppte Insektentierart, die in Asien heimisch ist. Als Wiemanns Tochter dann auf der heimischen Sonnenterrasse neben den Apfelbäumen auch noch eine etwa Daumennagel große Wanze anflog und ein weiteres Exemplar der gleichen Spezies direkt im Arbeitszimmer landete, schien das Rätsel gelöst. Eine Internet-Recherche bekräftigte den ersten Verdacht, Gewissheit aber brachte schließlich eine Expertise durch Ullrich Benker, Zoologischer Diagnostiker der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft: Es handelte sich um die Marmorierte Baumwanze.

Globalisierung und Klimawandel machen es möglich. Eingeschleppte Tier- und Pflanzenarten stellen Landwirtschaft, Obst- und Gemüsebauern ebenso wie Agrarexperten immer wieder vor neue Herausforderungen. Und die Liste der Schädlinge, die zumeist ungewollt als blinde Passagiere aus Asien in Brettern, Holzkisten oder sogar in Neuwagen eingeschleppt werden, wird immer länger. In den Fokus gerückt ist nach dem Laubholzbockkäfer, dem Buchsbaumzünsler oder der Kirschessigfliege nun die in Ostasien beheimatete Marmorierte Baumwanze. Fachleute warnen: Nach zahllosen Einzelfunden könnte sich die Stinkwanze bundesweit zu einem neuen, kaum mehr zu regulierenden und gefährlichen Schädling im Obst-, Gemüse- und Weinbau entwickeln. In der besonders betroffenen Schweiz verdoppelten sich 2019 die Ernteschäden im Vergleich zum Vorjahr.

Vor allem in den wärmeren Regionen Baden-Württembergs und entlang des Rheingrabens ist die Stinkwanze längst angekommen. In Oberbayern dagegen tauchten erste Exemplare im Vorjahr in München auf, doch nun scheint auch das Voralpenland betroffen zu sein. Zwar ist das Thema beim Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Weilheim - zuständig für die Landkreise Garmisch-Partenkirchen, Starnberg und Weilheim-Schongau - bislang noch unbekannt. Jürgen Ehrhardt, Fachberater im Landkreis Starnberg für Gartenkultur und Landespflege, ist ebenfalls noch keine Baumwanze untergekommen. Fehlanzeige auch bei den heimischen Safterzeugern: Weder bei der Firma Perger, die heimisches Obst aus der Region zu Säften verpresst, noch beim Obst- und Gartenbauverein Aufkirchen, sind bislang Ernteausfälle zu beklagen. Ralf Maier, seit Jahrzehnten Chef an der Aufkirchner Obstpresse, ist angesichts der Qualität der Früchte hochzufrieden: Das Obst sei dieses Jahr "so viel und so gut wie schon lange nicht mehr". Doch ob das so bleiben wird, ist fraglich. Für Ullrich Benker, Zoologe an der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft, steht fest: Die Wanze wird sich weiter ausbreiten.

Aufgrund ihrer hohen Mobilität und Robustheit wird sich die Marmorierte Baumwanze mit großer Wahrscheinlichkeit weiter verbreiten. Sie kann fliegen, fährt in Autos mit und überwintert zur Not auch unter Lastwagen-Planen. Auch rund um die Landeshauptstadt wurde die Stinkwanze schon mehrfach gesichtet: Sinken die Temperaturen, zieht sie sich ins Warme zurück und landet in unzugänglichen Ritzen und Verstecken von Wohnungen und Häusern. Zuweilen brummt sie laut wie eine Hummel durchs Zimmer. Die Tiere sind zwar ungefährlich, aber dennoch lästig - vor allem dann, wenn sie bei Bedrohung ein übel riechendes, lang anhaftendes Sekret absondern. Wird es wärmer, findet die Baumwanze in heimischen Gärten ideale Bedingungen.

Bei der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft in Freising nimmt man das Thema sehr ernst - und bittet um Mithilfe: "Wenn Sie eine Marmorierte Baumwanze oder Grüne Reiswanze finden, senden Sie uns davon ein Bild mit Angabe der Fundstelle per E-Mail oder schicken Sie uns ein Exemplar", heißt es auf der Homepage des Instituts. Am Landwirtschaftlichen Technologiezentrum Augustenberg (Baden-Württemberg) ist man sich derweil sicher, dass eine Ausrottung der Wanze nicht mehr möglich ist. "Die Dynamik der Nachweise hat zugenommen", heißt es angesichts enormer Ernteschäden in Apfelanlagen am Bodensee, an Kartoffeln im Breisgau oder Pfirsich-Plantagen bei Konstanz. "Es ist schwer vorhersagbar, wann diese Vorkommen eine schädliche Größe für den Erwerbsanbau erreichen", heißt es.

Zumal zur Bekämpfung der Marmorierten Baumwanze bislang nur wenig wirksame Möglichkeiten bekannt sind: Mit chemischen Mitteln ist ihr kaum beizukommen, in Europa ist ein natürlicher Feind nicht bekannt. Hoffnungen setzt die Wissenschaft derzeit auf einen Gegenspieler, der ebenfalls aus Ostasien kommt: die Samurai-Wespe. Die nur zwei Millimeter große Schlupfwespe legt ihre Eier ins Gelege der Wanze, die Wespenlarven fressen dann die Wanzeneier von innen leer. Unlängst erst gelang den Augustenberger Wissenschaftlern der Nachweis von Samurai-Wespen in Heidelberg, und auch in der Schweiz forscht man emsig diese biologische Schädlingsbekämpfung. Bis zu 80 Prozent der Wanzeneier könnten so zerstört werden, lautet die optimistische Prognose. Unbeantwortet ist dabei bislang jedoch die Frage, ob man womöglich versucht, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben: Womöglich stellt die gebietsfremde Samurai-Wespe auch eine Gefahr für einheimische Insektenarten dar.

Die Starnberger Seniorin indes hat das Thema Apfelernte für dieses Jahr abgehakt: Die meisten Früchte ihrer alten Bäume sind unbrauchbar. Sie hofft nun lediglich darauf, dass die Stinkwanzen nicht auch noch ihre Wohnung belagern.

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Quelle:
SZ vom 09.11.2020
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