SZ-Adventskalender:"Das Wichtigste ist, sich rechtzeitig Hilfe zu holen"
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Marc Wichlajew leitet die Schuldner- und Insolvenzberatung im Amt für Soziale Sicherung. Er versucht, jenen Menschen zu helfen, denen die Krise die Luft zum Atmen nimmt.
Interview von Berthold Neff
Die städtische Schuldner- und Insolvenzberatung ist ein gutes Barometer dafür, wie es den Münchnerinnen und Münchnern geht - besonders in der Krise. Der Jurist Marc Wichlajew, 50, leitet das Sachgebiet im Amt für Soziale Sicherung. Das 40-köpfige Team versucht, jenen Menschen zu helfen, denen die Krise die Luft zum Atmen nimmt - und das Recht auf ein menschenwürdiges Leben.
SZ: Herr Wichlajew, wie hat sich Ihre Arbeit in den vergangenen Jahren verändert - durch die Pandemie, Inflation, Energiekrise? Mussten Sie mehr Kunden als sonst beraten?
Marc Wichlajew: Wir hatten gerade bei den Selbständigen einen enormen Zuwachs. Da haben wir den Lockdown unmittelbar gespürt, von Friseuren über Yoga-Studios und Hotels, auch viele Beschäftigte aus dem Bereich Messebau, aus der Musik, Galeristen. Es sind Menschen zu uns gekommen, die nicht dachten, dass sie diesen Schritt gehen müssen, bis hin zu Piloten oder Selbständigen mit Geschäften im Luxusbereich.
Ging es dabei darum, eine Insolvenz zu vermeiden oder Privatinsolvenz anzumelden?
Sowohl als auch. Wir haben über die Coronahilfen beraten und über den Anspruch auf Sozialleistungen. Viele wollten den Schritt zur Sozialhilfe nicht tun.
Der Lockdown hat ja fast jeden getroffen.
Von den Reinigungskräften in Hotels bis hin zu den Bäckereien oder kleinen Imbissständen, denen die Schulkinder als Kundschaft weggebrochen sind.
Die Statistik sagt aber, dass es ausgerechnet während dieser Zeit einen Rückgang bei den Privatinsolvenzen gab. Wie erklären Sie das?
Es lag vielleicht daran, dass auch die Inkassounternehmen und die Gerichtsvollzieher im Home-Office waren. Und es zeigten sich viele Gläubiger tolerant während der Krise, auch die Finanzämter gewährten großzügig Stundungen. Und es gab natürlich auch weniger Gelegenheit, Geld auszugeben, für Reisen, fürs Ausgehen. Viele Menschen haben das so gesparte Geld wohl benutzt, um bestehende Schulden zu tilgen.
Das gesellschaftliche Leben läuft nun wieder weitgehend normal. Die Leute können wieder Geld ausgeben. Merken Sie das bei Ihrer Arbeit?
Wer wenig Geld hat, schmeißt es sicher nicht raus. Was wir mitbekommen, ist die allgemeine Teuerung. In vielen Haushalten ist die Existenz auf Kante genäht. Da muss gar nicht viel passieren, dass dieses System kollabiert. Da reicht es, wenn plötzlich Abschlagszahlungen für Strom oder Heizung erhöht werden. Oder wenn man Geld auftreiben muss, damit die Kinder ins Schullandheim fahren können, was ja längere Zeit nicht möglich war. Während der Zeit, als die Schulen geschlossen waren, mussten viele Familien technisch aufrüsten, um Home-Schooling zu ermöglichen.
Und jetzt kommen noch die Inflation und die enorm gestiegenen Energiepreise dazu.
Bei uns sind diese Probleme noch gar nicht angekommen. Viele Menschen, die von dieser Entwicklung betroffen sind, versuchen noch, sich zu arrangieren, greifen auf ihre Reserven zurück, sofern sie welche haben. Wir rechnen aber mit einem Ansturm, wir werden unsere Beratung intensivieren müssen. Die Sparquote ist in der letzten Zeit deutlich zurückgegangen. Bei einer Tagung der Landesarbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatungen in Bayern wurde berichtet, dass allgemein erwartet wird, dass der Bedarf an Beratung massiv ansteigen wird. München ist zwar eine reiche, aber auch eine sehr teure Stadt. Insbesondere Getrennterziehende und Familien mit mehreren Kindern oder ältere Menschen mit geringen Renten werden da in Schwierigkeiten geraten. Der jüngste Armutsbericht hat ja gezeigt, dass es in München 98000 Verschuldete gibt. Also sieben bis acht Prozent der Erwachsenen in München sind verschuldet. Das heißt, dass sie ihre Verbindlichkeiten nicht mehr aus ihrem laufenden Einkommen bezahlen können.
Erwarten Sie von den gerade beschlossenen Hilfspaketen der Bundesregierung einen positiven Effekt?
Entscheidend bei dieser Entwicklung wird sein, wie sie bei den Betroffenen ankommen. Und ob die Erhöhung von Sozialleistungen, etwa beim Bürgergeld, die durch die Inflation gestiegenen Lebenshaltungskosten kompensieren können, was eher unwahrscheinlich ist.
Was raten Sie Menschen, bei denen das Geld so knapp wird, dass sie an der Heizung sparen und sich beim Essen noch mehr einschränken als bisher?
Das Wichtigste ist, sich rechtzeitig Hilfe zu holen. Ansprechpartner sind die Sozialbürgerhäuser. Viele Menschen wissen gar nicht, was ihnen von Gesetzes wegen zusteht. Dass sie auch dann Hilfen bekommen können, wenn sie Vollzeit arbeiten, aber der Lohn nicht zum Leben reicht. Darüber hinaus ist es wichtig zu priorisieren. Zuerst müssen Miete und Heizung, Strom und Wasser gesichert sein. Da darf man mit den Zahlungen nicht ins Hintertreffen geraten.
Und wenn die Schulden schon so hoch sind, dass die Sozialbürgerhäuser nicht mehr helfen können, wenn es schon fast zu spät ist, kommen Sie ins Spiel.
Die Schuldenregulierung ist ja nur dann sinnvoll, wenn keine neuen Schulden mehr entstehen. Für uns ist wichtig, dass der Haushalt ausgeglichen ist, dass man also mit seinen Einkünften auskommt.
Bekommen Betroffene sofort Hilfe oder müssen sie mit Wartezeiten rechnen?
Wir haben eine Wartezeit von drei Monaten für eine Langzeitberatung, wir haben aber auch eine Hotline, die täglich erreichbar ist, und wir haben Kurzberatungen.
Und es haben sich die Bedingungen für eine Privatinsolvenz verbessert.
Ja, dieses Verfahren wurde auf drei Jahre gesenkt, ist nun also für eine größere Zielgruppe attraktiv. Deutschland hinkte da im europäischen Vergleich hinterher. Drei Jahre sind ein überschaubarer Zeitraum.
Was muss man in dieser Zeitspanne tun, um schuldenfrei zu werden?
Das Gute am Insolvenzverfahren ist, dass es kein Stempel des Scheiterns ist, sondern ein Instrument der Sanierung. Man hat in dieser Zeit eine Erwerbsobliegenheit, also man muss Einkommen erzielen, egal ob als Selbständiger oder als Angestellter. Wenn man keine Arbeit hat, ist man verpflichtet, sich eine angemessene Arbeit zu suchen.
Und wie läuft es dann genau ab?
Der Insolvenzverwalter sammelt das Einkommen während dieser drei Jahre ein. Es kommt in einen Topf, aus dem das Verfahren bezahlt wird. Was übrig bleibt, erhalten die Gläubiger. Die Quoten, die Gläubiger bei einem Privatinsolvenzverfahren erhalten, pendeln zwischen zwei und vier Prozent. Wer während dieser Zeit kein pfändbares Einkommen hat, kann trotzdem die Restschuldbefreiuung erlangen.