Süddeutsche Zeitung

Chef des NS-Dokuzentrums:Helfer in der Not

Lesezeit: 2 min

Von Peter Fahrenholz

Es kommt nicht häufig vor, dass der größte Kritiker am Ende zum Leiter eines Projektes berufen wird, das er lange angemahnt hat. Seit 1988 hat der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger gefordert, dass sich München mit seiner NS-Vergangenheit auseinandersetzen müsse, dass auch die Rolle der Täter dokumentiert und dargestellt werden müsse.

Diese Forderung hat Nerdinger immer wieder bekräftigt und dabei auch die Verantwortlichen der Stadt mit Kritik nicht verschont. Im Jahr 2006 etwa hat er dem damaligen Oberbürgermeister Christian Ude in einem SZ-Interview vorgehalten, sich zu wenig für ein NS-Dokumentationszentrum engagiert zu haben. "Wenn er sich stärker eingesetzt hätte, hätte sich früher etwas bewegt."

Das Interesse der Münchner am düstersten Kapitel

Nerdinger hatte da gerade die Ausstellung "Ort und Erinnerung" ins Werk gesetzt, in der die Verwicklung Münchens mit dem Nationalsozialismus gezeigt wurde. Und in die innerhalb kurzer Zeit mehr als 150 000 Besucher strömten. Für Nerdinger ein Beweis dafür, dass die Münchner sehr wohl ein Interesse daran haben, sich auch mit dem düstersten Kapitel der Stadtgeschichte auseinanderzusetzen.

Dass Nerdinger im Sommer 2012 zum Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums ernannt wurde, ist dennoch nicht die logische Konsequenz seines unablässigen Bohrens gewesen. Im Grunde hatte die Stadt kaum eine andere Wahl, als den anerkannten Experten, der kurz vor seiner Pensionierung stand, zu berufen. Denn die Lage rund um das Projekt war zu diesem Zeitpunkt gelinde gesagt verfahren.

Was Nerdingers Vorgängerin nicht geschafft hat

Die ursprüngliche Gründungsdirektorin Irmtrud Wojak war von der Stadt von einer Leitungsfunktion entbunden worden, man hatte sich danach auf eine einvernehmliche Trennung geeinigt. Mit dieser Formulierung wird gemeinhin übertüncht, wenn es hinter den Kulissen gewaltig gekracht hat.

Eine vierköpfige Historiker-Kommission mit Nerdinger an der Spitze musste in aller Eile schaffen, was Wojak in zweijähriger Vorarbeit offensichtlich nicht gelungen war: ein Drehbuch dafür zu entwerfen, was man in dem Dokumentationszentrum eigentlich zeigen wollte. "Das Konzept ist komplett neu entwickelt worden", sagt Nerdinger - und macht damit deutlich, dass von Wojaks Überlegungen fast nichts verwertbar war.

Ein strenger und fordernder Chef

Der 70-jährige Nerdinger ist in mehrfacher Hinsicht prädestiniert für den Job gewesen. Nerdinger entstammt einer sozialdemokratischen Familie, sein Vater war in einer Widerstandsgruppe aktiv, der beste Freund des Vaters wurde von den Nazis hingerichtet. Anders als in vielen Familien, in denen die Nazi-Zeit nach dem Krieg totgeschwiegen wurde, war das Thema "bei uns zu Hause fast jeden Tag auf dem Tisch", erzählt Nerdinger.

Als Architekturhistoriker hat sich Nerdinger intensiv mit der NS-Zeit befasst. Und er ist kein Theoretiker, sondern ein erfahrener Ausstellungsmacher. Etwa 150 Ausstellungen hat Nerdinger in seinem Berufsleben gestaltet.

Trotzdem ist das NS-Dokumentationszentrum eine besondere Herausforderung für ihn gewesen. "Das Hauptproblem war der Termindruck", sagt er. Hunderte Einzelmaßnahmen mussten festgelegt und ihre Abfolge genau koordiniert werden. Bei allen der etwa 900 Fotos und Dokumente hat er die letzte Entscheidung getroffen. Dass er dabei für seine Mitarbeiter ein strenger und fordernder Chef gewesen ist, räumt Nerdinger unumwunden ein.

Dass er als Nothelfer eingesprungen ist, statt einfach friedlich in Pension zu gehen, hat Nerdinger als Direktor eine starke Position verschafft. "Mit was will man mich unter Druck setzen?", sagt er, "ich habe meine akademische Karriere hinter mir." Und selber vor dem Druck einer solchen Mammutaufgabe zu kapitulieren, wäre für ihn nicht in Frage gekommen. "Das hätte ich nie hingeschmissen."

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Quelle:
SZ vom 29.04.2015
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