Süddeutsche Zeitung

Oktoberfest:Als Hochleistungsmusikant auf der Wiesn

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Sie müssen den Exzess vor der Tribüne ausblenden - Tag für Tag. Die Musiker im Hofbräuzelt arbeiten unter Extrem-Bedingungen. Xaver Peisl ist einer von ihnen.

Von Magdalena Latz

Er steht im Zentrum des Chaos und genießt den Anblick. Von hier oben kann Xaver Peisl perfekt beobachten, was sich zu seinen Füßen abspielt. Er nennt es den "Moloch" - und möchte die Meute vor der Bühne doch nicht missen. Der 36-Jährige gehört seit 15 Jahren zur Kapelle des Hofbräu-Zelts. Meistens spielt er Gitarre. Oder Klarinette. Wenn er nicht gerade dirigiert. Keiner der Musiker muss einen festen Part einnehmen. Zumindest vor 16 Uhr wechseln sie sich ab, um ihre Kräfte zu schonen. Und das ist auch notwendig. Sie spielen jeden Tag von 12 Uhr mittags bis halb elf nachts. Unter normalen Umständen wäre das schon anstrengend - auf dem Oktoberfest ist es ein Knochenjob.

"Nach ein paar Stunden hämmert die Lautstärke wie ein Presslufthammer auf deinen Kopf", sagt Peisl. "Aber meine Ohrstöpsel machen die 110 Dezibel im Zelt etwas erträglicher." Auch der Flüssigkeitsverlust kann für den Körper auf der Wiesn gefährlich werden. Jeden Tag muss Peisl mindestens fünf Liter Wasser trinken - Bier ist für die Musiker übrigens auch erlaubt, wenn auch in reduziertem Maße.

Die Feiernden unterhalb der Bühne ahnen davon wohl nichts. Die Kapelle ist für sie ein Teil dieser Spaßfabrik, die die vermeintlich heimelige Stimmung abrundet. Dafür zahlt man, dafür sollen möglichst viele Prosits geliefert werden. Etwa 90 Mal wird es am Tag von der Kapelle geschmettert. Das kurbelt Trinkfreude und Hemmungslosigkeit an.

"Bei manchen hat man das Gefühl, dass sie ins Zelt kommen und im gleichen Moment etwas in ihrem Kopf ausschalten. Das hat was animalisches," sagt Peisl. Von der Bühne aus konnte er in den vergangenen 15 Jahren schon fast alles mal beobachten: Leute, die Sex haben. Leute, die in ihre Masskrüge pinkeln. Und Leute, die ihre Mass exen, sich übergeben und den Krug nochmal ansetzen. Heute sei es nicht mehr so wild wie früher, findet er. Dazu hätten wohl vor allem soziale Netzwerke beigetragen. "Früher ist das, was hier drin passiert ist, auch hier geblieben. Aber heute wissen alle, dass der Schmarrn', den sie treiben, schnell im Internet landen kann," sagt Peisl.

Auf der Bühne geht es dagegen fast unspektakulär zu. Zwischen Instrumentenkoffern und Verstärkern stehen Notenständer mit dicken Ordnern. Mehr als 500 Lieder hat die Kapelle im Repertoire - obwohl fast jeden Tag dieselben gespielt werden. Nur die Reihenfolge verändert sich. Die Musik ist in den letzten Jahren besser geworden, meint Peisl. "Früher gab es mal eine Zeit, da wurde viel "Ballermann"-Quatsch geschreddert. Das war die Hölle damals. Zum Glück ist das vorbei." Heute spielen sie mehr klassische Soul- und Rock-Nummern. Auch weil sich die Stimmung im Zelt dadurch steuern lässt. "Wenn wir merken, dass die Leute besonders aufgewühlt sind, stimmen wir "Purple Rain" an", erklärt er.

Am Rand der hölzernen Plattform sitzen ein paar Musiker und ruhen sich aus. Wie Peisl stammen fast alle aus Niederbayern, manche aber auch aus der Oberpfalz oder Oberbayern. Momentan spielen etwa 24 Leute bei "Alois Altmann und seinen Isarpatzen". Außerhalb des Oktoberfests existiert ihre Kapelle in dieser Form nicht. Sie brauchen einander um bis zum Ende durchzuhalten.

Ab und zu kommt es vor, dass einer von ihnen den Wiesn-Koller bekommt. Müdigkeit, Überlastung, Stress - einfach zu viel von all dem außenrum. Dann ist die Motivation durch den Rest der Gruppe besonders wichtig. Oft hilft es auch für einige Minuten an die frische Luft zu verschwinden. In einem Bereich hinter dem Hofbräu-Zelt haben sie fast so etwas wie Privatsphäre - soweit das auf dem Oktoberfest überhaupt möglich ist. Hier haben normale Wiesnbesucher keinen Zutritt. Die Distanz zu den Leuten zu wahren und sich nicht zu sehr auf sie einzulassen, ist wichtig für die Musiker.

Normalerweise - man könnte sagen: im echten Leben - arbeitet Xaver Peisl in Vilsbiburg für eine Firma, die Industrie-Zentrifugen herstellt. Früher hat er die ganzen 16 Tage auf der Wiesn mitgemacht, seit vergangenem Jahr ist er nur noch eine Woche dabei. Seine Urlaubstage spart Peisl jetzt lieber für die Familie auf. Gerade haben ihn seine Frau und sein Sohn auf der Wiesn besucht - und starkes Heimweh bei ihm ausgelöst. Weitermachen will er trotzdem.

"Auch wenn du vieles hier ausblenden musst, pusht es dich irgendwie. Die meisten Musiker haben nicht oft die Gelegenheit vor 10.000 Leuten zu spielen," sagt er. Seine blauen Augen leuchten hinter der Nickelbrille. Die große Gemeinschaft im Hofbräu-Zelt gefällt ihm. Fast jedes Jahr arbeiten hier die gleichen Bedienungen, Security-Leute, Musiker und Wirte. Viele von ihnen kennt Peisl schon eine gefühlte Ewigkeit.

Trotz der Strapazen bleibt die Wiesn für ihn ein besonderes Fest. "Bei uns feiern von Australien bis Grönland alle miteinander und es funktioniert," schwärmt Peisl. Die Australier mag er besonders - eine Gruppe von ihnen erkennt er immer an ihren T-Shirts: "Fanatics" steht darauf.

Jedes Jahr stellt sich Peisl die Frage, warum er wieder hierher zurückkommt. Dann schaut er auf das Chaos zu seinen Füßen und kennt die Antwort.

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