Süddeutsche Zeitung

Neuried/Sendling-Westpark:Ein schillernder Pionier

Lesezeit: 3 min

Vor 125 Jahren gründete der Psychiater Ernst Rehm die erste private "Irrenanstalt" Münchens. In Neuried erinnert ein Straßenname an den Mann, der mit 75 Jahren in die NSDAP eintrat, aber dennoch Juden behandelte

Von Annette Jäger

Mit Geschichte hatte Reinhard Lampe eigentlich nicht viel am Hut. Doch dann übernahm er 2014 das Gemeindearchiv in Neuried. Und kurz darauf machten zwei telefonische Anfragen zu einem gewissen Doktor Rehm, nach dem eine Straße in Neuried benannt ist, aus ihm einen leidenschaftlichen Vergangenheitsforscher.

Die Spuren Rehms führten Lampe zur Kuranstalt Neufriedenheim, der ersten privaten Münchner Irrenanstalt - so nannte man psychiatrische Kliniken damals noch - im heutigen Stadtbezirk Sendling-Westpark. Anstaltsdirektor war fast 50 Jahre lang eben jener Ernst Rehm, ein renommierter Psychiater. Am 1. Oktober jährt sich die Eröffnung Neufriedenheims zum 125. Mal. Lampe hat mit Akribie Daten und Fakten zu Rehm und der Anstalt gesammelt, Kontakt zu zwei Zeitzeugen aufgenommen und ein Stück fast vergessene Münchner Stadtgeschichte in die Erinnerung zurückgeholt.

Die Kuranstalt Neufriedenheim steht heute noch, allerdings nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form. Wer stadteinwärts fahrend in Laim von der Lindauer Autobahn abfährt und sich weiter Richtung Westpark hält, kommt an dem recht verfallenen Gebäude vorbei. Durch Bombenangriffe wurde die einst repräsentative Anstalt 1942 schwer beschädigt und später nur sehr einfach wiederaufgebaut. Früher lag das Anwesen in einem Kurpark von zehn Hektar Größe, eine Direktorenvilla, in der Rehm mit seiner Familie lebte, stand auf dem Grundstück. Die Gegend drumherum war noch unbebaut.

Lampe ist eigentlich Mathematiker, sein analytisches Denken hat ihm bei der historischen Recherche den Weg durch die Quellen gewiesen. Er besuchte Archive und Bibliotheken, es gelang ihm, Zugang zum geheimen Hausarchiv der Wittelsbacher zu erhalten, er machte eine inzwischen über 90 Jahre alte Enkelin Rehms ausfindig und interviewte die Witwe eines anderen Enkels.

Lampe fand heraus, dass Rehm nicht in Neuried wohnte, dort aber umfangreichen Grundbesitz hatte. "Rehm war steinreich", vermutet Lampe. Als nach dem Ersten Weltkrieg im Zuge der Weltwirtschaftskrise in Neufriedenheim zahlungskräftige Patienten ausblieben, verkaufte Rehm Grundbesitz - in den Dreißigerjahren entstand dann die "Rehmsche Siedlung" an der heutigen Dr.-Rehm-Straße.

Seine medizinische Karriere begann Rehm als Student bei dem damals als fortschrittlich geltenden Psychiater Bernhard von Gudden. "Von Gudden war der Arzt, mit dem König Ludwig II. im Starnberger See ertrank", ergänzt Lampe. Rehm wurde 1886 Stellvertreter Guddens, der Leiter der Kreisirrenanstalt in Giesing war. Von dort kam Rehm nach Neufriedenheim, erst als leitender Arzt, ein Jahr später konnte er die Klinik "zum Schnäppchenpreis" übernehmen.

In der "Kuranstalt Neufriedenheim für Nerven- und Gemütskranke beider Geschlechter", wie die Klinik offiziell hieß, setzte Rehm als einer der ersten in München die Psychoanalyse nach Freud ein, erzählt Lampe. Gleichzeitig behandelte er aber auch nach der Adlerschen Individualpsychologie - zwei therapeutische Gegensätze, Freud und Adler waren Kontrahenten. Die Kuranstalt, die der Direktor komfortabel ausbauen ließ und die Platz für etwa 90 Patienten bot, erwarb "internationale Anerkennung", so der Archivar.

Rehm war aber auch politisch aktiv: Er war Ärztefunktionär und setzte sich als Landrat von Oberbayern für die Reform des bayerischen Irrenwesens ein. Schon damals beklagte Rehm den Mangel an Therapieplätzen und forderte eine Spezialisierung der Anstalten. Politisch driftete der Klinikdirektor dann allerdings ab, wurde 1933, im Alter von 75 Jahren, Mitglied der NSDAP. Seiner Enkelin zufolge war Rehm überzeugter Nazi; trotzdem wurden in Neufriedenheim weiterhin auch jüdische Patienten behandelt oder neu aufgenommen, wie Lampe erstaunt feststellen konnte. Der Archivar glaubt, dass Rehm auch als überzeugter Nazi deren Rassenhass nicht teilen konnte.

Als 1940 alle jüdischen Patienten in bayerischen Heil- und Pflegeanstalten nach Eglfing-Haar verlegt und in der Folge vergast wurden, konnten zwei jüdische Patientinnen trotzdem in Neufriedenheim bleiben. "Wie das gelingen konnte, hätte ich gerne herausgefunden", so Lampe. Doch 1941 mussten dann auch diese beiden Bewohnerinnen die Heilanstalt endgültig verlassen. Dass Rehm in den letzten Jahren vor dem Verkauf der Kuranstalt 1941 mit fast 80 Jahren noch aktiv ins Klinikleben eingegriffen hat, ist zweifelhaft, meint Lampe, Rehm sei wohl schon senil gewesen.

Längst hatte Leo Baumüller, Rehms Schwiegersohn, das Zepter in der Kuranstalt übernommen, Baumüller galt laut Lampe als Judenfreund. 1941 wurde die Klinik quasi hinter Rehms Rücken auf Betreiben seiner zweiten Ehefrau Marie an die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt verkauft. Ernst Rehm starb 1945, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Heute steht das alte Klinikgebäude am Rande des Verkehrskreuzes zwischen Autobahn und Fürstenrieder Straße. Bis 2011 war die Bayerische Landesschule für Gehörlose darin untergebracht, seit deren Auszug ist es verwaist. Auf einem Teil des früheren Parkgeländes wurden das Erasmus-Grasser- und das Ludwigsgymnasium errichtet, Rehms herrschaftliche Direktorenvilla auf dem Areal wurde dem Bau der Lindauer Autobahn geopfert.

Fast scheint es so, als sei die Geschichte damit bis zu Ende erzählt. Nicht so für Reinhard Lampe. Er hat Feuer gefangen an der historischen Arbeit und so viel über Ernst Rehm in Erfahrung gebracht, dass er bereits eine nahezu fertige Biografie in der Schublade hat. "Jede neue Erkenntnis zieht neue Fragen nach sich", hat er festgestellt. Für Reinhard Lampe geht die Geschichte des Psychiaters Ernst Rehm und die von Neufriedenheim also noch weiter.

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Quelle:
SZ vom 01.10.2016
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