Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Meter für Meter:Künstler-Flair und viel Geschichte

Lesezeit: 4 min

Kleine Läden, verwunschene Hinterhöfe, vertraute Gesichter: Das ist es, was Bewohnern an der Türkenstraße gefällt. Doch auch hier merkt man, wie sich die Stadt verändert.

Von Dominik Hutter

Straßen sind die Lebensadern der Stadt. Viele sind bekannt, manche sind berühmt, andere erzählen einfach nur gute Geschichten. Ein Streifzug.

"Es ist die Mischung", sagt Hella Schlumberger. Sie steht auf dem Gehweg der Türkenstraße, an der sie seit 1968 in einer Hinterhofwohnung lebt, und blickt man auf die wuselige Szenerie zwischen den prächtigen Altbaureihen, weiß man sofort, was sie meint. Auffallend viele kleine Läden gibt es noch an der Straße, die zu den beliebtesten Ausgeh-Adressen Münchens gehört. Die Leute sitzen gemütlich in den Straßencafés, flanieren, kaufen ein und ratschen. Nachbarn grüßen sich, beflissene Büromenschen eilen vorbei. Es gibt noch das alte Antiquariat Hammerstein und einen alteingesessenen Mini-Elektroladen.

Im Akthof, erreichbar durch eine Einfahrt neben der Klassiker-Kneipe Türkenhof, finden Mal- und Zeichenkurse statt. Und wirft man einen Blick in die Hinterhöfe, was normalerweise nicht so einfach möglich ist, entdeckt man die versteckte Welt der unsanierten kleinen Werkstätten und Ateliers - ganz anders als die zumeist wohlsanierten Fassaden der Vorderhäuser. Es gibt grüne Hofidyllen und mit Holz gepflasterte Durchfahrten, knarzende Altbau-Treppenhäuser und die Spekulations-Baulücke schräg gegenüber vom Café Puck. In einem der Höfe, in Nummer 59, hat der lange Zeit verkannte Georg Elser in einer Schreinerwerkstatt seine "Höllenmaschine" gebaut, die er dann in nächtelanger Arbeit in einer Säule des Bürgerbräukellers in Haidhausen versteckt hat.

In einem kleinen Zimmer in Hausnummer 94 hat er gewohnt, bis kurz vor jenem 8. November 1939. Das Attentat auf Adolf Hitler misslang bekanntlich, wäre es geglückt, hätte dies wohl die Weltgeschichte verändert. Die Autorin und Journalistin Schlumberger hat es sich zur Aufgabe gemacht, an den mutigen Schreiner zu erinnern - mit einer Initiative erreichte sie, dass der kleine Platz neben der Türkenschule den Namen Elsers bekam. Eine Neon-Installation, die täglich um 21.20 Uhr, dem Zeitpunkt der Bombendetonation, aufleuchtet, ist dem 1945 im KZ Dachau ermordeten Einzeltäter gewidmet. Inzwischen ärgert sich Schlumberger freilich, wie unachtsam mit dem an Elser gemahnenden Platz umgegangen werde - vollgestellt mit Tischen der benachbarten Gastronomie.

Die Türkenstraße kann viel Geschichte vorweisen, außerordentlich viel sogar. Wozu auch das neugotische Wittelsbacher Palais ganz am innerstädtischen Anfang, an der Kreuzung mit der Brienner Straße gehört, das erst Alterssitz von König Ludwig I. war, dann Wohnsitz Ludwigs III. und schließlich Gestapo-Hauptquartier, in dem die Geschwister Scholl und auch Georg Elser verhört wurden. Der kriegszerstörte Palast existiert nicht mehr, dort befindet sich heute die Zentrale der Landesbank. Ein Stückchen die Türkenstraße stadtauswärts befand sich einst die Tonhalle, ein berühmtes Münchner Konzerthaus. Auch dieses Gebäude steht nicht mehr.

Denn die Türkenstraße hat sich natürlich im Laufe der Jahrzehnte stark verändert. Das gilt auch für die von Schlumberger so geliebte Mischung ihrer Besucher und Bewohner. Klar sei auch in der Türkenstraße, wie in der gesamten Maxvorstadt, eine Entwicklung nicht zu übersehen: "Es gibt eine Tendenz Richtung jung und reich", sagt die Autorin, die über "ihre" Türkenstraße ein eigenes Buch verfasst hat, in dem zahlreiche Bewohner und Beobachter zu Wort kommen. Vor allem ältere Alteingesessene gebe es immer weniger.

Auch Tino Gottschall, der in der "Amber-Lounge" individuelle und oft handgefertigte Mode verkauft, attestiert der Maxvorstadt eine "extreme Jugendkultur". Eigentlich sei immer typisch für die Türkenstraße gewesen, dass "jeder vom anderen die Story kennt". Noch vor 20 Jahren habe es deutlich mehr Subkultur gegeben. Wenn nun ein Laden schließt, werde er sehr schnell zum Café oder Imbiss umgewandelt. Dennoch liebt Gottschall die Türkenstraße, seine vielen Stammkunden und das besondere Flair.

"Es ist eine ganz besondere Straße", davon ist Nicki Marquardt überzeugt. "Jeder kennt sie." Extrem vielfältig, mit der Pinakothek der Moderne und dem Brandhorst-Museum ganz im Süden, dann nördlich anschließend der urbanere Teil mit den vielen Lokalen und Läden. Schließlich die Kunstakademie, die 2005 einen spektakulären, im Stil des Dekonstruktivismus errichteten Erweiterungsbau bekommen hat. Diese Nachbarschaft sei "unglaublich inspirierend und lebendig", schwärmt Nicki Marquardt, die in Handarbeit Hüte herstellt und in ihrem Geschäft neben dem Türkenhof verkauft. Auch wenn es zugegeben vor 20 Jahren bunter zugegangen sei und noch deutlich skurrilere Läden existiert hätten.

Sie alle sind überzeugte "Türkenstraßler": Tino Gottschall liebt das Flair,...

...zu dem auch die vielen Läden und Cafés gehören.

John Friedmann liebt es, seinen Cappuccino im Freien zu trinken,...

...Hutverkäuferin Nicki Marquardt findet die Nachbarschaft "unglaublich inspirierend".

Heinz Weld lebt bereits seit Jahrzehnten hier.

Die Nähe der Akademie trägt viel bei zum Flair der Türkenstraße, die nach wie vor als Künstlermeile gelten kann. Die Kunsthochschule, die zu den ältesten Deutschlands gehört, hat etwa Heinz Weld absolviert, der nun im zweiten Hinterhof in einem Souterrain-Atelier seine verschlungenen Holzskulpturen und Gemälde herstellt. Auch er ist seit Jahrzehnten Türkenstraßler. In den Achtzigern und Neunzigern legendär war der inzwischen verstorbene "Blaubart" Robin Page, ein bekannter Fluxus-Künstler und Professor, der mit seinen vier Neufundländern im Garten der Akademie wohnte und mit seinen Studenten gerne mal im Türkenhof einkehrte.

Der gebürtige Engländer Page, der in Schlumbergers Buch mit dem Satz zitiert wird, ein blauer Vollbart wirke gleichzeitig intellektuell und sehr aggressiv, stellte irgendwann fest, dass die angehenden Künstler ihr Handwerk nicht mehr so beherrschten, wie er sich das vorstellte. So berichtet es Marianne Wübker, die dann mit Page zusammen eine Kunstschule gründete, die heute noch existiert: den in einem idyllischen Hinterhof gelegenen Akthof. Dort wird professionell unterrichtet: gegenständliches und abstraktes Zeichnen, Proportionen, Perspektiven.

Dass in der Türkenstraße die Kunst schon seit einem guten Jahrhundert zu Hause ist, weiß jeder, der sich mit der Münchner Bohème am Anfang des 20. Jahrhunderts befasst hat. Große Teile der berühmten Schwabinger Szene waren in Wahrheit in der Maxvorstadt zu Hause. Bis heute gibt es an der Türkenstraße den Alten Simpl, den Nachfolger des legendären Simplicissimus, in dem Karl Valentin, Frank Wedekind, Ludwig Thoma, Olaf Gulbransson und Joachim Ringelnatz verkehrten. Das berühmte Café Stephanie, ebenfalls ein Künstlertreff, war nicht weit weg. Bis vor einigen Jahren existierte nahe der Kreuzung Türken-/Theresienstraße noch die Kunstbuchhandlung Goltz, eine intellektuelle Institution über 150 Jahre, in der Franz Kafka seine einzige Lesung außerhalb Prags absolvierte und in der einst eine Ausstellung des "Blauen Reiters" stattfand.

Später dann, in den Achtzigerjahren, war der Lack etwas abgeblättert, wie Mark Altner, der Wirt des Türkenhofs, berichtet. "Ein bisschen unentdeckt", ja fast altbacken, sei die Türkenstraße damals gewesen. Mit ihren vielen Kneipen, die eher gemütlich als szenig waren. 1988 übernahm Altner den Türkenhof, der zuvor als Treff rechter Studenten gegolten habe, sich schließlich aber zu einer der lustigeren Kneipen für alle Altersstufen mauserte. "Die Straße hat sich inzwischen sehr gewandelt." Schicker sei sie geworden, ein In-Treff. Vorbei die Zeiten, als man spätnachts weiter ins eher bürgerlich möblierte "Charivari" zischte, das über eine Ausnahme von der Sperrstundenregelung verfügte. Oder nebenan im ebenfalls längst verschwundenen Programmkino Türkendolch einen Jim-Jarmusch-Film ansah - was für Cineasten damals das höchste der Gefühle war. Ein düsteres Kino mit schwarz gestrichenem Foyer. Klein. Verschachtelt. Cool. Türkenstraße.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5003702
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 20.08.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.