Süddeutsche Zeitung

Münchner Spaziergang:Gewohnheiten der Glockenbachianer

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Man sieht an einigen Archetypen und ihrem Verhalten, in welchem Stadtviertel man sich befindet - ganz ohne Blick aufs Straßenschild.

Kolumne von Philipp Crone

Man sieht im Glockenbachviertel jetzt auf der Straße, was die Leute daheim machen. Und man sieht an einigen Archetypen und ihrem Verhalten, in welchem Viertel man sich befindet, ganz ohne Blick aufs Straßenschild.

Neben Hundehaufen liegen mittlerweile auch gebrauchte Einmalmasken herum. Vom Must-have zum Must-waste. Wo man sich vor Wochen noch vor- und umsichtig an die Situation herantastete, hat sich bei vielen Glockenbachianern längst wieder der Egotrieb durchgesetzt. Freitagmorgen um kurz vor sieben steht ein Handwerker genervt vor einem Müllcontainer. Er hat ihn am Tag davor für seine Baustelle aufstellen lassen, jetzt ist er mit Vintage-Möbeln voll. Ausmisten, das macht man gerade. In der Baaderstraße liegt Literatur rum. "So weit die Füße tragen" und "So lernt man leben".

Man lernt auch, dass sich Gewohnheiten dann doch durchsetzen. Mundschutz? Klar, aber über das Red-Sox-Cap gespannt. Erinnert an Rom kurz nach der Motorino-Helmpflicht, als die Ragazzi den casco aufsetzten, als sei es die vierte Kugel auf der Waffel. Pärchen, die ihre McFit-Körper ausführen, rambolieren über den Bürgersteig, dass jeglicher Gegenverkehr an die Hauswand hüpft. Hier hat sich das Leben auf die Straße verlagert wie sonst nur Anfang August im tiefsten Westend. Und der Saftstand am Viktualienmarkt setzt ein Statement mit dem grünen "Mambo Italiano" mit Basilikum. Der Frühling wird gerockt.

Erstaunlich ist nur, dass Motto-Masken rund um den Gärtnerplatz noch keinen Durchbruch geschafft haben. Ein paar "Abstand-halten!"-T-Shirts sind unterwegs, aber die Masken sind noch unbeschrieben. Immerhin viertelgerecht im Preis, zehn bis zwölf Euro. Aufschriften folgen. Vielleicht als Reise-Version mit "All I got from Wuhan is this lousy mask", als Kinder-Version mit "Haribo formte diese Zähne" oder auch als Tinder-Version mit "Hier könnten Ihre Lippen sein".

Hinweis der Redaktion: Streng genommen liegt nur ein Teil der Schauplätze im eigentlichen Glockenbachviertel - das sich südwestlich der Fraunhoferstraße erstreckt. Nordöstlich der Fraunhoferstraße liegt hingegen das Gärtnerplatzviertel. Allerdings scheinen die Grenzen recht fließend zu sein: So liegt beispielsweise der beliebte Stadtteiltreff "Glockenbachwerkstatt" (Blumenstraße 7) eindeutig im Gärtnerplatzviertel. Und während der Glockenbach selbst dort nur unterirdisch unter der Pestalozzistraße fließt, ist der einzige oberirdische Bach im Glockenbachviertel der Westermühlbach. Politisch ist's eh alles ein Stadtviertel: Sowohl das Glockenbach- wie auch das Gärtnerplatzviertel gehören zur Isarvorstadt, und die wiederum bildet gemeinsam mit der Ludwigsvorstadt den offiziellen Stadtbezirk 2 (Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt). Die Glockenbachianer und ihre Grenzen...!

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SZ vom 29.04.2020
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