Süddeutsche Zeitung

München-Schwabing:Boheme und Nazi-Bonzen

Lesezeit: 3 min

Ein neues, kundiges Stadtteilbuch zeigt Schwabing auch in seinen dunklen Kapiteln

Von Stefan Mühleisen

Es war schon recht schmerzlich, als am 26. Februar 1889 Schwabing elektrisch leuchtete, in der stolzen Kapitale München dagegen weiterhin die Gaslaternen funzelten. Die Haupt- und Residenzstadt müsse zusehen, so notierte damals der Zweite Bürgermeister Wilhelm Georg Borscht, "wie ein kleines Städtchen vor ihren Toren sie in Fürsorge für die öffentliche Beleuchtung durch Einführung des elektrischen Lichts übertrifft".

Da konnte noch keiner ahnen, wie sehr Schwabing bald auftrumpfen, gar zum schillernden Mythos avancieren sollte, wie viel über dieses Viertel gesagt und geschrieben werden wird. Doch die Geschichte Schwabings ist längst nicht auserzählt, wie das neue Stadtteilbuch "Schwabing im Wandel der Zeit" (WIKOM media Verlag) zeigt. Zwar sind die Zeitläufe vom einstigen Bauerndorf zu "Wahnmoching" und "Traumstadt" weidlich beschrieben worden. Doch der neue Band leistet mehr als nur einen Aufguss. Chefautor Reinhard Bauer ergänzt den Forschungsstand nicht nur mit erhellenden, oft amüsanten Quellenfunden wie das zitierte Aperçu von Borscht. Er präsentiert auch neue Zusammenhänge zu einer in der Schwabing-Historie vernachlässigten Episode: der Zeit des Nationalsozialismus.

Reinhard Bauer ist dabei ein ausgewiesener Schwabing-Experte. Der Historiker Germanist, Namensforscher, Volkskundler und ehemalige Stadtrat hat zahlreiche Bücher zur Münchner Stadtgeschichte verfasst, vier über Schwabing, davon zwei Stadtteilbücher, erschienen 1993 und 1997 - nun also das dritte. In seinem Nachwort lässt Bauer anklingen, dass nach mehr als zwei Jahrzehnten eine aktualisierte Darstellung der Lokalhistorie nötig sei. Mitgewirkt haben die Co-Autoren Kathrin Schirmer, Historikerin und freie Redakteurin, sowie Thomas Jacobi, Historiker und Bauschreiber beim Münchner Baureferat.

Ihnen ist ein kundiges Werk gelungen, das ein gute Balance zwischen anschaulichem Detailreichtum und aussagekräftiger Verknappung findet. So verzichten die Autoren teils auf deskriptive Beschreibungen, lassen lieber Quellen sprechen, etwa wenn ein Amtsarzt 1861 auf naserümpfende Weise dem Innenministerium vom dörfliche Alltagsleben berichtet: Der Sinn für Reinlichkeit, so heißt es, sei bei den Bewohnern noch nicht geweckt. "Die Neigung zum Baden ist bei unseren Landsleuten fast Null." Manchmal sind diese Archiv-Perlen nur locker eingestreut: "Ja mei, 's is halt schad, dass es so wenig verwendet worden ist, das Siegestor", soll Karl Valentin nach dem Zweiten Weltkrieg einst beim Anblick des beschädigten Monuments gesagt haben.

Eine Bereicherung ist überdies, dass die Geschichte von Wirtschaft und Handel in Schwabing ausführlich Beachtung findet, denn es war und ist Standort bedeutender Betriebe, auch von Traditionsgaststätten. Wobei viele Kneipen in der Nachkriegszeit verschwanden, Nachtlokale entstanden, die ihrerseits Schauplätze des modernen Schwabing-Mythos sind: das "Yellow Submarine" etwa, in dem Haie in einem Aquarium um die Gäste herumschwammen. Etwas bedauerlich ist, dass neue Quartiere wie Parkstadt Schwabing und Domagkpark nur skizzenhaft porträtiert sind. Auch ein Register wäre bei einem solchen Nachschlagewerk sehr wünschenswert.

Den Zwiespalt bei der quasi klassischen Schwabinger Zeit der Bohemiens, Künstler und Literaten hat das Autorenteam indes gut gemeistert. Denn diese illustre, von sehr vielen prominenten Akteuren bevölkerte Epoche bietet ausufernde historiografischen Möglichkeiten. Geboten wird eine verdichtete Zusammenfassung mit Akzenten: Franziska zu Reventlow, die legendäre Gräfin, ist ein längeres Stück gewidmet, ebenso dem "Simplizissimus"-Verleger Albert Langen. En passant faltet sich so das Netzwerk der prägenden Figuren der Boheme-Szene auf.

Doch auch die völkisch und antisemitisch Eingestellten unterhielten ein erstaunliches Netzwerk in Schwabing. Es dürfte wenig bekannt sein, wie viele maßgebliche Akteure der nationalsozialistischen Bewegung Schwabinger waren. "Die Schwabinger Nazis hatten einen erheblichen Anteil am verhängnisvollen Weg der ,Hauptstadt der Bewegung'", resümiert Bauer in diesem verdienstvollen Kapitel. Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß wohnte an der Mainzer Straße 3, Reichspropagandaleiter Gregor Straßer an der Habsburgerstraße 3. Adolf Hitler selbst schaute oft bei Ernst Hanfstaengl, später Auslandspressesprecher der NSDAP, an der Gentzstraße 1 vorbei; ferner lebte Karl Fiehler, von 1933 bis 1945 Oberbürgermeister, an der Degenfeldstraße 4. Dabei war der Stadtteil nicht nur Lebensmittelpunkt von NSDAP-Granden, auch von Ideologen und Unterstützern der Partei: Richard Graf Du Moulin-Eckart auf Hohenheim, Geschichtsprofessor, wohnhaft zuletzt Bismarckstraße 17, förderte in seiner Rolle als Gauvorsitzender im "Alldeutschen Verband" Hitler und die NSDAP; in Schwabing zuhause waren überdies der Verleger des Naziblatts "Völkischer Beobachter", Rudolf von Sebottendorf alias Rudolf Glauer, sowie ein Redakteur der Zeitung, Josef Stolzing-Cerny, der Hitlers "Mein Kampf" lektorierte; an der Georgenstraße 12 hatte Adolf Ziegler sein Domizil, Akademieprofessor und als Präsident der "Reichskammer für bildende Künste" oberster Repräsentant der deutschen Kunst für das NS-Regime.

Das neue Buch räumt auch den Schwabinger Opfern des NS-Terrors angemessenen Raum ein, doch die große Präsenz der Täter in Schwabing ist frappierend. Wobei das Autorenteam hierzu ein fast valentineskes Bonmot aus der Überlieferung beisteuert: Kunstmaler Zieglers Lieblingsmotive waren, wie im ganzen Reich zu Genüge zu sehen, Aktdarstellungen - was ihm den Spitznamen "Reichsschamhaarmaler" einbrachte.

Reinhard Bauer, Thomas Jacobi, Kathrin Schirmer: Schwabing im Wandel der Zeit, WIKOM media Verlag, 175 Seiten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4901600
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.05.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.