Süddeutsche Zeitung

Bildung:Zu arm für die Schule

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Von Jakob Wetzel, München

Kurz vor Schulbeginn, "in der heißen Phase", wie Petra Reiter sagt, arbeiten sie in ihren Lagerräumen im Werksviertel in drei Schichten. Mit Listen und Einkaufskörben gehen sie dann die Regale entlang, packen Hefte und Stifte ein, Malkästen und Spitzer, Schnellhefter und Scheren, und füllen alles in Schulranzen. Mehrere Tausend Hefte liegen hier schon bereit, Hefte mit 54 unterschiedlichen Lineaturen, dazu Füller für Rechts- und für Linkshänder. "Wir haben hier einen richtigen kleinen Karstadt", sagt Reiter. Doch die Schulsachen werden nicht etwa verkauft. Sie sind von Firmen und von Privatleuten gespendet worden, und nun werden sie verschenkt: an Kinder, deren Eltern sich den Schulbeginn ihrer Kleinen sonst nicht leisten könnten.

Reiter gehört zum Vorstand der Initiative " Bunte Münchner Kindl", angebunden an die Stiftung "Wir helfen München". Gemeinsam mit der Frau des Oberbürgermeisters kümmern sich etwa 25 Helferinnen um die Organisation, werben um Spenden, sortieren und packen. Und "Bunte Münchner Kindl" ist nicht die einzige Initiative in der Stadt, die bedürftige Schulkinder ausstattet. Sie würden mit anderen Initiativen zusammenarbeiten und diesen etwa Schulsachen zur Verfügung stellen, sagt Reiter. Und die Kleiderkammern der "Diakonia" der evangelischen Inneren Mission München zum Beispiel sammeln ebenfalls gezielt Schulmaterial und werben um Spenden. Etwa 30 Angestellte und Ehrenamtliche seien hier engagiert, sagt Thomas Rosenberger von der "Diakonia".

Wie vielen Kindern sie helfen müssen, darüber sprechen Rosenberger und Reiter ungern. Die Zahl schwanke stark von Jahr zu Jahr, sagt Rosenberger. In der Regel sei die Nachfrage nach Schulsachen aber größer als das Angebot. Wer in einer der drei stationären Kleiderkammern der Inneren Mission Stifte und Hefte bekommen wolle, muss einen Nachweis mitbringen, dass er bedürftig ist. "Bunte Münchner Kindl" verlässt sich dagegen auf die Schulen: Wenn die bestätigen, dass ein Kind Hilfe braucht, dann bekommt es die auch. Reiter sagt, es gebe im Jahr etwa 1500 bis 2000 Kinder, "die sehr dankbar sind, dass es uns gibt". Nicht alle bräuchten die Vollausstattung, einige erhielten schlicht einzelne Hefte oder Arbeitsbücher. Doch die Initiative sei in allen Stadtteilen aktiv. Und die Zahl der Kinder, die auf Spenden angewiesen sind, sei nicht rückläufig. Sie steige.

Dabei gibt es für Schulbedarf an sich auch Geld vom Amt. Gemäß Bundesgesetz stehen hilfebedürftigen Schülerinnen und Schülern 150 Euro pro Schuljahr zu, um sich Schulsachen kaufen zu können. Teilweise wird das Geld mit der übrigen Sozialhilfe ausbezahlt, teilweise muss es beantragt werden; die Familien würden dann aber darauf hingewiesen, teilt das Münchner Sozialreferat mit. Im vergangenen Jahr hat es etwa 1,6 Millionen Euro ausbezahlt. Weil der Zuschuss bis Juli 2019 nur 100 Euro betrug, entspricht das etwa 16 000 Schulkindern.

Über dieses Geld hinaus unterstützt die Stadt Schulkinder aus bedürftigen Familien mit 150 Euro, wenn sie zum ersten Mal in eine Münchner Schule kommen, wenn sie also besonders viel Geld brauchen, weil sie etwa einen Schulranzen kaufen müssen. 2018 summierte sich dieser freiwillige Zuschuss auf 144 000 Euro, das entspricht 960 Kindern. Und zusätzlich verwaltet die Stadt mehrere Stiftungen, deren Geld ebenfalls dazu verwendet werden kann, Kinder im Einzelfall mit Schulmaterial auszustatten. In welcher Größenordnung dies geschieht, wird nicht gebündelt erfasst.

Doch das Geld von der Stadt und vom Staat reiche hinten und vorne nicht, sagt Petra Reiter. Alleine die Erstausstattung koste inklusive Schultasche etwa 300 Euro, sagt Julia Bollwin von "Bunte Münchner Kindl". Und mit einem gefüllten Schulpack ist es nicht getan. Grundschüler brauchen oft eigene Hausschuhe für die Schule, sie benötigen Sportsachen, und die Eltern müssen auch noch Kopiergeld bezahlen.

Um den Familien unter die Arme zu greifen, bitten die Ehrenamtlichen um Spenden. Mangelware seien vor allem Zirkel, Taschenrechner und Malkästen, heißt es von "Bunte Münchner Kindl". Die Kleiderkammern können alles gebrauchen, von Bleistiften bis hin zu Schnellheftern. Wichtig sei aber, dass die Sachen neu oder neuwertig seien, und zwar wirklich neuwertig, betont Rosenberger. Spender würden das oft sehr großzügig beurteilen: "Man meint immer, was man selber in Gebrauch gehabt hat, das ist schon noch gut." Aber manchmal würden zum Beispiel Schultaschen abgegeben, mit denen man kein Kind mehr guten Gewissens in die Schule schicken könne. Und natürlich könne man auch ein Heft weiterverwenden, aus dem die bereits beschriebenen Seiten herausgerissen wurden und auf dem schon ein anderer Name steht. Aber einem Kind werde damit gleich am ersten Tag seines Schülerdaseins vermittelt: Du kannst nur das haben, was andere ausrangiert haben. Da gehe es um Wertschätzung, sagt Rosenberger.

"Wir wollen die Kinder so ausstatten, als wären es unsere eigenen", sagt auch Petra Reiter. Die Erstausstattung sei deshalb immer neu. Nur wenn ein Kind auf seine Sachen nicht achtgebe und zum Beispiel ein Federmäppchen verliere, erhalte es als Ersatz etwas Gebrauchtes.

Alles können Kinder bei "Bunte Münchner Kindl" freilich nicht bekommen. Schuhe zum Beispiel fehlen im Sortiment. Früher habe man einmal Sportschuhe verteilt, aber das sei organisatorisch nicht mehr zu stemmen, erklärt Reiter. Kinder wachsen zu schnell aus Schuhen heraus, und die Lagerräume sind auch zu klein. Im Gespräch mit Schulen und dem Bayerischen und dem Münchner Lehrer- und Lehrerinnenverband sei aber ohnehin klar geworden, dass den Kindern mit Schulmaterial viel mehr geholfen sei.

Wer spenden will, kann die Schulsachen bei der Diakonia in den Annahmestellen an der Dachauer Straße 192 und am Stahlgruberring 8 abgeben; geöffnet ist dort jeden Werktag von 9 bis 16 Uhr, samstags nur bis 12 Uhr, donnerstags dafür bis 19 Uhr. Wer "Bunte Münchner Kindl" unterstützen möchte, könne sich am besten per E-Mail unter helfen@bunte-muenchner-kindl.de melden, sagt Reiter. Oder er kommt am Freitag, 30. August, zwischen 13 und 17 Uhr ins Wirtshaus Donisl am Neuen Rathaus. Dort sammelt die Initiative speziell gefüllte Schultüten für den ersten Schultag; da dürfe durchaus auch Süßes in der Tüte sein, sagt Reiter, jedenfalls solange es bei Wärme nicht schmelze.

Die Kinder sollen sich auch am ersten Schultag nicht ausgeschlossen fühlen, sagt Reiter. 2018 hätten sie deshalb erstmals auch eine eigene Schultüten-Notrufnummer eingerichtet. Kam ein Kind ohne Tüte in die Grundschule, konnten die Schulen hier Alarm schlagen. Ein Ehrenamtlicher schwang sich dann auf sein Fahrrad oder auf seinen Roller und lieferte eine vorbereitete Tüte. Elf Mal seien sie im vergangenen Jahr gerufen worden, erzählt Reiter. Das sei nicht übermäßig viel. Aber sie hätten damit doch für elf Kinder den ersten Schultag gerettet. In diesem Jahr soll es diese Nummer wieder geben.

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Quelle:
SZ vom 26.08.2019
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