Süddeutsche Zeitung

Diskriminierung in München:Wo Rassismus ein Fremdwort ist

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Wer Hass und Diskriminierung nicht selbst erlebt, kann es oft nicht fassen: Für Betroffene aber ist das allzu oft Alltag. Deswegen ist es so wichtig, ihnen zuzuhören.

Kommentar von Martin Bernstein

"Rassismus ist ... wenn Leute sagen, ich wäre empfindlich, weil ich Diskriminierung anspreche." So heißt es in einem Videoclip, mit dem die städtische Fachstelle für Demokratie auf die derzeit stattfindenden Münchner Internationalen Wochen gegen Rassismus hinweist. Vielleicht wundert sich die liberale Stadtgesellschaft: Rassismus in München? Das sind vielleicht ein paar Nazis, schlimm, ja - aber doch nicht in unserem Alltag! Und wenn tatsächlich eine Gewalttat passiert, hier oder anderswo, geht man natürlich sofort dagegen auf die Straße.

Es ist dieselbe Stadtgesellschaft, die zugleich oft übersieht, dass jeden Tag in ihrer Mitte ein, zwei, drei, viele Fälle von Hassverbrechen und Diskriminierung geschehen. Einfach so, im Alltag. Rassismus in München? Er ist da. Und er wird immer sichtbarer.

Für die Betroffenen ist das eine Binsenweisheit - weil sie den Hass in ihrem Alltag erleben. Weil sich im Supermarkt jemand neben ihnen anmaßt, darüber zu urteilen, wer "hierher gehört" und wer nicht. Weil der Nachbar beim Streit am Gartenzaun, weil der Autofahrer, der glaubt, ihm seien Parkplatz oder Vorfahrt genommen worden, plötzlich plärren, wie "anders" der andere doch sei. Weil Vermieter, Arbeitgeber, Polizisten, Kontrolleure ihre Machtposition ausnutzen für ein verächtliches "Du nicht!" oder ein bedrohliches "Du da!".

Und dann gibt es diejenigen, die angesichts solcher Berichte gerne mal sagen, es sei ja nichts Schlimmes passiert. Die den Betroffenen dann erklären, dass sie deswegen nicht betroffen zu sein hätten. Diejenigen, die weghören oder wegschauen, wenn am U-Bahnsteig oder am Brotregal gepöbelt, beleidigt, ausgegrenzt wird. Diejenigen, die das alles für aufgebauscht halten, weil: "Rassismus in München? Habe ich noch nie erlebt!"

Für viele Münchnerinnen und Münchner ist Rassismus ein Fremdwort. Weil sie ihn nie erleben, auch nicht erleben können - zumindest nicht als Opfer. Umso wichtiger ist die Arbeit der Beratungsstelle Before, umso wichtiger sind die Wochen gegen Rassismus. Betroffene von Hass, von Ausgrenzung und Diskriminierung müssen selbst zu Wort kommen - und das Fremdwort Rassismus übersetzen für immer noch viel zu viele taube Ohren.

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Quelle:
SZ vom 17.03.2021
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