Süddeutsche Zeitung

Olympische Spiele 1972:Schneisen für die Blechlawine

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Um möglichst viele Besucher in die Stadt zu schaufeln, werden 1972 fünf neue "Superstraßen" in München eröffnet. Für die Lindauer Autobahn etwa wird die Hälfte des Lochhamer Waldes geopfert. Und am Ende stehen die Autofahrer im Stau.

Von Berthold Neff

Wie haben die das damals bloß gemacht? Erst einmal 1965 kurz die Hand gehoben, als die Welt wissen wollte, wer die Olympischen Spiele 1972 ausrichten will und kann. Dann mal kurzerhand ein Modell mit Zahnstochern, Reißnägeln und einer Strumpfhose improvisiert, um zu zeigen, wie die olympischen Stätten aussehen könnten. Dieses Modell dann in der ersten Runde abgelehnt, dann aber doch noch auf die Schnelle akzeptiert. Und dann, innerhalb von atemberaubend kurzen sechs Jahren, die olympischen Stätten ins Oberwiesenfeld modelliert. Ganz nebenbei am 19. Oktober 1971 die erste U-Bahn-Strecke eröffnet, die Olympialinie, und ein halbes Jahr später den mehr als vier Kilometer langen Tunnel zwischen Hauptbahnhof und Ostbahnhof, die Stammstrecke der S-Bahn.

Man muss nicht unbedingt das Desaster beim Bau der zweiten Stammstrecke vor Augen haben, die ein halbes Jahrhundert später trotz der Fortschritte in der Bautechnik und bei den Computern zeitlich und finanziell aus dem Ruder läuft. Man muss sich das mal vorstellen, wenn die Olympia-Macher damals zähneknirschend hätten zugeben müssen, dass die S-Bahn nicht wie geplant fertig würde, sondern sechs oder noch mehr Jahre später und mehr als doppelt so teuer. War aber nicht so. Damals wurde zwar auch einiges teurer als geplant, aber es blieb halbwegs im Rahmen.

Damals wurde selbstverständlich auch der Deutschen liebstes Kind, das Auto, nicht vergessen. Das Wirtschaftswunder hatte das Land in Bewegung gebracht, die Zahl der Autos nahm stetig zu, die zur Zeit des Nationalsozialismus gebauten Autobahnen erwiesen sich als zu wenig leistungsfähig für die große Mobilität und das Fernweh der Deutschen. Wie sollten außerdem all die Besucher nach München kommen zu den Spielen? Wo doch keine einzige Autobahn in die Stadt führte? Und wie sollten die Münchner den Weg ins Grüne ins Umland finden, am Steuer der 345 000 Pkw, die schon damals in München zugelassen waren, wobei SUV allen noch ein unbekanntes Fremdwort war?

Fast 50 Kilometer Straße für eine halbe Milliarde Mark

Zumindest Richtung Süden konnte man auf einen Vorläufer bauen. Die Olympiastraße war schon am 20. Januar 1936 eröffnet worden, als Verbindungsstrecke von München nach Garmisch, dem Austragungsort der Olympischen Winterspiele 1936. Sie war 94 Kilometer lang und war, bevor sie als B 2 und dann als A 95 ins Straßenverzeichnis einging, einst die Pilgerstraße der Gläubigen gen Rom gewesen und auch der Heeresweg der deutschen Kaiser zu den italienischen Städten, als sie nach römischem Vorbild Via Imperii hieß.

Aber nun ging es nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft. München, das sich in der NS-Zeit "Hauptstadt der Bewegung" nannte, wollte der Welt zeigen, dass nun alles anders war. Fortschrittlich, modern, der Zukunft zugewandt. Hans-Jochen Vogel, den man später als "Jahrhundert-Oberbürgermeister" bezeichnete, griff diesen Fortschrittsglauben, der auch seinem sozialdemokratisch geprägten Weltbild entsprach, gerne und tatkräftig auf. Erste Überlegungen, Autobahnen bis in die Nähe des Marienplatzes zu führen, waren zwar schon vorher ad acta gelegt worden, doch allen war klar, dass die alten Bundesstraßen nach München den neuen Herausforderungen nicht genügen würden. Also baute man und zwar emsig und an mehreren Baustellen gleichzeitig.

Das ging so schnell, dass vor 50 Jahren, am 2. August 1972, fünf neue "Superstraßen" feierlich eröffnet werden konnten - B 12, B 13, McGraw-Graben, die Donnersbergerbrücke mit ihren zehn Fahrspuren und die Ortsumgehung Dachau. Lediglich der Regen trübte das Fest, bei dem Bayerns damaliger Innenminister Bruno Merk mit einer Anspielung an das olympische Kräftemessen den Grund für den Erfolg hervorhob: "Unter höchstem Zeitdruck, fast unter dem Diktat der Stoppuhr, wurde in den Büros, auf den Baustellen und bei den Bauverwaltungen gearbeitet." Eröffnet wurden fünf neue Strecken, die als Autobahnen gestaltet waren, mit einer Gesamtlänge von fast 50 Kilometern. Gekostet hatte der Spaß 456 Millionen Mark.

Das dicke Ende kam später. Anfangs wurde die neuen München-Zubringer noch gefeiert, denn einige Stadtviertel und Vororte profitierten tatsächlich davon. Die neue B 12, heute Teil der Lindauer Autobahn, entlastete vor allem Pasing, brachte aber - vor und nach dem Bau - die Anlieger in Kleinhadern auf die Barrikaden, auch die Bewohner des Seniorenheims Augustinum, an dem die Strecke vorbeiführte. Man opferte für die neue Trasse die Hälfte des Lochhamer Waldes, konnte aber die Anwohner trotz Tunnels, Lärmschutzwänden oder Böschungen nicht vor den schädlichen Einflüssen des Autoverkehrs bewahren.

"Den schädlichen Fahrzeugemissionen, den hochgiftigen, bleihaltigen Abgasen werden sie jedoch auf lange Zeit ausgesetzt sein", hieß es schon am Tag vor der Eröffnung in der Süddeutschen Zeitung. Schon damals war den Planern klar, dass die neuen, breiten Straßen einen Rattenschwanz an neuen Problemen mit sich bringen würden. Zwar freuten sich die Bürger, dass sie ohne jegliche Ampel bis weit in die Stadt hinein fahren konnten, aber irgendwann war Schluss, dann standen sie trotzdem im Stau - vor den Wohnzimmern der Anwohner. Das blühte auch jenen Autofahrern, die auf der damals neuen B 13 unterwegs waren, die fast die Hälfte aller aus Richtung Salzburg anrollenden Autos aufnehmen sollte. Sie fuhren zwar durch den neuen McGraw-Graben, landeten dann aber doch auf dem Mittleren Ring - und der platzte schon damals aus allen Nähten.

OB Georg Kronawitter geißelt den "Bandwurm aus Lärm, Blech und Gestank"

Im SZ-Bericht von 1972 wurden die von den Planern frühzeitig erkannten Probleme so formuliert: "Besondere Sorge bereitete damals schon der Luise-Kiesselbach-Platz, in den neben dem Mittleren Ring auch die Olympiastraße, die Waldfriedhofstraße und die Albert-Roßhaupter-Straße einmünden." Geplant war, diesen überlasteten Knoten kreuzungsfrei zu gestalten, was aber zunächst am Geld scheiterte: "Heute liegen die Pläne auf Eis, die Ebbe in den Kassen des Kämmerers zwingt dazu." Erst mehr als vier Jahrzehnte später, am 25. Juli 2015, wurde der Luise-Kiesselbach-Tunnel eröffnet, als letzter der drei Tunnel, die 1996 in einem sehr knapp ausgegangenen Bürgerentscheid für den Mittleren Ring beschlossen wurden. Die Zahl der Pkw in der Stadt hatte sich da schon längst verdoppelt, Ende 2021 waren in München 736 000 Pkw zugelassen.

Der Protest der Anwohner, die an den bis 1972 in die Stadt geführten Autobahnen sowie entlang des Mittleren Rings leben, hat sich dementsprechend verschärft. Die Hoffnung, die Lindauer Autobahn auf ihrem Weg zwischen Laim und Hadern bis Sendling-Westpark zu überdachen, hat sich aber ebenso zerschlagen wie der dringende Wunsch, den die Anwohner der Landshuter Allee äußerten: Bewahrt uns vor der stinkenden, lärmenden Autolawine! Einst war es dort viel ruhiger. Von 1858 bis 1892 hörte man dort nur das Schnaufen der Dampflok, die auf der eingleisigen Bahnstrecke von München nach Landshut vor sich hin tuckerte. Dann, ein halbes Jahrhundert später, kamen die Autos und waren nicht nur viel lauter, sondern auch schmutziger.

Und so verwundert es nicht, dass schon im November 1972, als die neuen, breiten Straßen den Verkehr ungehindert in die Stadt zogen, bis er sich am Mittleren Ring staute, die SZ angesichts der Brisanz der Lage eine gemeinsame Tagung ihres Verkehrsparlaments und ihres Gesundheitsforums anberaumte. OB Georg Kronawitter, der 1972 die Nachfolge von Hans-Jochen Vogel angetreten hatte, geißelte den "Bandwurm aus Lärm, Blech und Gestank", dem man Einhalt gebieten müsse - durch den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs. Kronawitter rechnete stets gerne vor, dass ein U-Bahn-Gleis drei sechsspurige Autobahnen überflüssig mache, und gab als Losung aus: "Schutz dem Bürger" statt "Freie Bahn dem Auto".

Unterstützung bekam er von der Dortmunder Professorin Erika Spiegel. Wohl mit Blick darauf, dass bei Olympia ein stromgetriebenes Auto einsam seine Runden beim Marathonlauf zog, bekräftigte sie bei der Tagung, dass auch lärm- oder gar abgasfreie Autos nicht der Weisheit letzter Schluss seien. Das Problem liege im Flächenbedarf, den das Auto beanspruche - Raum, der dann den Menschen fehle. Das stimmt auch heute noch, ein halbes Jahrhundert später. Wie es wohl nach fünfzig weiteren Jahren aussehen wird?

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