Süddeutsche Zeitung

Allach:Schüler kümmern sich um Demenzkranke

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Anfangs schwankten die Mittelschüler zwischen Desinteresse und Respekt vor der Aufgabe - inzwischen hat sich ein erstaunlicher Wandel vollzogen.

Von Anna Hoben

An diesem Tag ist Amina Reiseleiterin. Die beiden Frauen setzen sich auf die Stühle vor ihr, und schon geht sie los, die Duftreise. Amina greift sich ein blaues Fläschchen von der Kommode, sprüht Flüssigkeit auf ein Stück Papier und gibt es weiter: "Wie gefällt Ihnen dieser Duft?" Die Frau im pinken Pulli hat gleich eine Meinung: "Das ist kräftig, gut." Ihre Sitznachbarin nickt.

Auf das blaue Fläschchen folgt ein gelbes, dann ein blaues, dann eines, das aussieht wie ein goldenes Mikrofon. Der Fläschchenvorrat auf der Kommode ist unerschöpflich. Eine Stunde später wird Amina eine Tabelle ausgefüllt haben mit den Bewertungen der Frauen: "blumig", wird da stehen und "zu leicht", "eklig", "geht so", "kompliziert", "das Beste" und "ganz nice". Ganz nice, wer hat das denn gesagt? Amina grinst - das ist natürlich ihre eigene Formulierung.

Kurz bevor die Siebtklässlerin sich mit den beiden Frauen auf Duftreise begeben hat, war im Rosengarten die Tür aufgeflogen, sieben Jungen und Mädchen waren hereingestürmt und hatten sich wild durcheinanderredend auf die Stühle fallen gelassen, die in einem Kreis aufgestellt waren. Als René Pastor angefangen hatte zu reden, war es schlagartig still geworden. Die Schülerinnen und Schüler sind zwischen zwölf und 14 Jahre alt, es ist ihr dritter Besuch im Rosengarten, einer Tagespflege für Demenzkranke direkt gegenüber ihrer Schule, der Mittelschule an der Franz-Nißl-Straße in Allach.

Lange hatte es nicht mehr als Blickkontakt gegeben, hin und wieder hatte ein Gast der Tagespflege auch mal einen Schüler über den Zaun nach einer Zigarette gefragt. Die Kinder hätten sehr unterschiedlich reagiert und viele Fragen gehabt, sagt René Pastor. Um sie zu beantworten und die Nachbarn einander näher zu bringen, hat der Demenzhelfer vor drei Jahren das Schulprojekt gestartet.

Zur Auffrischung erzählt er den jungen Besuchern an diesem Nachmittag noch einmal die Geschichte vom Park des Lebens. Um Demenz zu verstehen, müsse man sich das Leben als einen großen grünen Park vorstellen, in dem es viele große und kleine Wege gibt. Ein Weg kann zum Beispiel der zur Schule sein, ein Weg kann aber auch das Wissen darum sein, wie man sich die Zähne putzt, die Haare kämmt oder die Brille putzt. Wenn jemand an Demenz erkrankt ist, wuchert das Grün im Park, die Wege werden überwachsen, es gibt keine Ordnung mehr.

"Ihr seid Gärtner", sagt Pastor zu den Schülern, "ihr seid mit der Schere unterwegs und schneidet Wege frei. Ihr sagt den Menschen, vergiss nicht, das ist was zu trinken, an dem Parfüm kann man riechen." Tags zuvor habe er zum ersten Mal erlebt, dass eine Frau abends beim Abholen ihren Mann nicht mehr erkannt habe. "Was glaubt ihr, wie er reagiert hat?" "Traurig", sagt eine Schülerin, "ängstlich", meint ein anderer, "erschrocken".

Jeder bekommt nun eine Station zugewiesen, Amina macht die Duftreise, die besonders beliebt ist, Max spielt mit einem Gast Mensch ärgere dich nicht , Alexander lauscht einem Hörspiel über eine Demenz-WG, Joel schaut eine Dokumentation über pflegende Angehörige, Marco singt Lieder mit der Betreuungsgruppe, Aysin bereitet Äpfel und Schokolade vor und ist dafür verantwortlich, dass alle etwas zu trinken haben.

Beim Nachmittagskaffee trifft sie Fatma* wieder. Fatma ist 80 Jahre alt, Aysin ist zwölf, die beiden haben sich schon einmal hier getroffen, "aber sie hat mich vergessen", sagt Aysin. Trotzdem wirken die beiden schon nach kurzer Zeit so vertraut wie Großmutter und Enkelin, und das liegt sicher auch daran, dass sie dieselbe Sprache teilen, Türkisch, auch wenn die alte Frau eher Hochtürkisch spreche, wie das Mädchen sagt, "das alte, gebildete".

Fatma hat ihr erzählt, dass sie aus einer Stadt in der Nähe von Ankara kommt und dass sie drei Söhne hat, sie hat ihr erzählt, was sie an diesem Tag schon gemacht hat, nämlich dagesessen und Kekse gegessen. Fatma erinnere sie an ihre eigene Oma in der Türkei, sagt Aysin, die trage auch Kopftuch und habe eine ähnliche Art. Aysins Augen strahlen. Auch sie selbst vergesse übrigens oft Dinge, "Hausaufgaben, Katzenklo sauber machen"; aber sie hat verstanden, dass das eine andere Art von Vergessen ist als jenes, mit dem Fatma und ihre Angehörigen konfrontiert sind.

Ein paar Räume weiter ist Aysins Mitschüler Max mit seinem Spielpartner Walter in eine Partie Mensch ärgere dich nicht vertieft. So vertieft sind sie, dass Walters Kaffee kalt wird, der Kuchen unangerührt bleibt. Max würfelt, er könnte Walter rauskegeln, zieht dann aber seine Hand zurück und bewegt eine andere Figur. Gleich zweimal habe Walter ihn abgezockt, wird er später erzählen.

Ein ganzes Schuljahr dauert das Projekt, das der Verein Wohlbedacht initiiert hat und das mit Stiftungsmitteln gefördert wird. Es gibt Theorie und Praxis, am Ende bekommen die Jugendlichen ein Zertifikat. Anfangs schwankten die Schüler zwischen Desinteresse und Respekt vor der Aufgabe, erzählt die Lehrerin Anna Wenz: "Demenz, was soll denn das sein? Warum soll ich mich nachmittags mit alten Menschen hinsetzen? Muss ich die wickeln?" Doch dann vollziehe sich ein erstaunlicher Wandel, viele entdeckten Stärken an sich, die sie im Unterricht nicht zeigen könnten, sie legten Berührungsängste ab und entwickelten ein Gespür für andere Menschen. Oft seien es gerade jene Kinder, die sich in der Schule damit schwer täten, Regeln einzuhalten.

Nach den Besuchen im Rosengarten herrsche oft noch tagelang Redebedarf darüber. René Pastor freut sich darüber, dass manche Schüler irgendwann für ein Praktikum wieder kommen. Und auch im Alltag hat das Projekt ganz konkrete Auswirkungen: Auf ihrem Schulweg winken die Schüler nun fröhlich über den Zaun.

*Auch die erwachsenen, demenzkranken Personen sind nur mit ihren Vornamen genannt, um ihre Anonymität zu wahren.

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Quelle:
SZ vom 26.03.2019
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