Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Wie das Wasser die Stadt prägt:Ungeheuer aus den Bergen

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Die Isar ist ein Segen für München. Das war sie schon im Mittelalter, als sie Waren in die Stadt hinein- und Unrat hinausbeförderte. Doch der Fluss hat auch eine dunkle Seite. Chronisten berichten von Zerstörung, Leid und Tod.

Von Wolfgang Görl

An guten Tagen ist die Isar ein harmlos dahinplätschernder Fluss, der zum Bade einlädt, sofern man kaltes Wasser nicht scheut. Aber der "große Gießbach aus den Bergen", wie Thomas Mann die Isar nannte, hat auch eine dunkle, gefährliche Seite, und dann ist das "frei gewaltig wazzer" (so eine Urkunde von 1381) ein Ungeheuer, das alles und jeden mit sich reißt, der in seinen Sog gerät.

Auf diese gewaltsame, mitunter tödliche Natur wird der Isar-Flaneur aufmerksam gemacht, wenn er am rechten Flussufer die Stelle erreicht, an welcher der Auer Mühlbach mit großem Getöse abzweigt. Dort steht eine Holztafel mit der Aufschrift: "In Erinnerung an den Wasseraufseher Johann Anzer, ertrunken am 22. März 1906."

Geht der Flaneur ein paar Schritte hangaufwärts, gerät er auf einen fast urwaldartig überwucherten Kreuzweg und steht, nachdem er einen steinernen Altar passiert hat, vor einer aus Holz gezimmerten Kapelle. Nein, ein Geheimtipp ist dieses Kirchlein nicht, in München ist es weltberühmt: die Marienklause. Der Schleusenwärter Martin Achleitner hat sie 1866 errichtet, als Dank an die Gottesmutter, die ihn mehrmals vor den Fluten gerettet hat.

Ja, göttlichen Beistand brauchte, wer in der damaligen Zeit das Wehr am Auer Mühlbach betreute. Auch an der Kapelle erinnert eine Gedenktafel an den 1906 ertrunkenen Kollegen Achleitners.

Als an der Isarbrücke Herzog Heinrichs des Löwen um das Jahre 1158 der Markt und die Stadt München entstanden, hielten die Bewohner sicheren Abstand zum unberechenbaren Fluss. Die Isar war alles andere als ein artig dahinfließendes Gewässer, sie war ein Anarcho-Fluss, der zahllose Nebenarme hatte und nach jeder Flutwelle anders aussah. Noch 1802 beklagte die kurfürstliche Wasserbaudirektion, dass "die Isar selbst vor den Thoren der Hauptstadt nur unter wüsten Strecken herumwüllen muß und bei einiger Wasseranschwellung in der ganzen Gegend Schröcken und Verheerung verbreitet".

Extreme Schneeschmelze und Unwetter ließen den Fluss aus dem Karwendelgebirge zur Sintflut anwachsen. Im Mittelalter war die Errichtung von Uferbefestigungen und Dämmen die wichtigste Bauaufgabe der Stadt, nur Verteidigungsanlagen hatten gleichrangige Bedeutung. Vor allem die einzige Isarbrücke, die heutige Ludwigsbrücke, musste permanent ausgebessert werden, und manchmal fiel sie komplett einem der verheerenden Hochwasser zum Opfer.

Andererseits war die Isar ein Segen für die junge Stadt, ohne den ihr Aufschwung nicht möglich gewesen wäre. Kamen das Salz und andere Waren, die der herzoglichen Kasse, der Kommune und den Kaufleuten hohe Gewinne einbrachten, zwar auf dem Landweg nach München, so war es der Fluss, auf dem jene Rohstoffe transportiert wurden, die man benötigte, um Häuser zu errichten, Kirchen oder Stadtmauern.

Schon um 1300 florierte die Isarflößerei prächtig. Aus den reich bestückten Nadelwäldern des Isarwinkels beförderten die Flößer zahllose Holzstämme in die mittelalterliche Stadt. Allein für den Dachstuhl der zwischen 1468 und 1488 errichteten Frauenkirche ließ Zimmermeister Heinrich von Straubing 147 schwere Bauholzflöße zur städtischen Floßlände fahren. Auch die Ziegeleien und Kalköfen im Umkreis Münchens benötigten jede Menge Brennholz.

Bereits im Jahr 1286 hatte der Münchner Rat Gesetze für die Isarflößerei erlassen, in denen die Stadt das Stapelrecht beanspruchte. Demnach durfte kein Floß München passieren, ohne anzuländen. Drei Tage lang musste das Gefährt samt seiner Ware den Münchner Bürgern zum Kauf angeboten werden. Neben Holz waren es Wein, Öl, das beliebte Tölzer Bier, die ebenso begehrten Tölzer Möbel sowie andere Kaufmannsgüter, die auf dem Wasserweg nach München kamen. Auch Passagierfahrten gab es, unter anderem solche, die bis nach Wien gingen. Um das Jahr 1860, als die Isarflößerei auf dem Höhepunkt war, erreichten jährlich bis zu 10 000 Flöße die Landestellen der Stadt, die Untere Lände nördlich der Ludwigsbrücke, die Obere Lände am Westermühlbach und die Lände bei Thalkirchen.

Der Ritt auf dem Floß durch die Stromschnellen der wilden Isar war riskant, besonders an den Engstellen bei Fall, an der "Isarburg" bei Arzbach oder dem Georgenstein vor Grünwald. Einmal nicht aufgepasst - und der Flößer ging über Bord. Die wenigsten konnten seinerzeit schwimmen. Im April 1660 beispielsweise verunglückte der Floßmeister Joseph Pichlmayr auf der Isar zwischen Freising und Landshut. Mit an Bord waren 17 Münchner Wallfahrer, die allesamt ertranken. Pichlmayr überlebte, wurde aber unter dem Vorwurf der Trunkenheit des Landes verwiesen. Im März 1594, so berichtet die Stadtchronik, ist "ein Floß an einem Rechen auf der Isar gescheitert, und es sind viele Menschen, vor allem Kinder, ertrunken". Den Hinterbliebenen zahlte die Stadt insgesamt 17 Gulden aus.

Auch innerhalb der Stadtmauern war die Isar allgegenwärtig. Auf zeitgenössischen Gemälden ist zu sehen, dass viele Bäche durch die Stadt flossen, die natürliche oder künstliche Nebenarme der Isar waren und München zu einem Venedig en miniature machten. Diesseits und jenseits der Befestigungsanlagen trieben die Bäche viele Mühlen, Sägen und Schmiedehämmer an, sie lieferten die Energie für die Münchner Handwerksbetriebe.

Und was besonders praktisch war: Die Fluten dienten der Müllabfuhr. Bis ins 19. Jahrhundert warfen die Münchner Abfälle und Fäkalien einfach in den nächstgelegenen Stadtbach. Die bestialisch stinkenden Gerbstoffe der mittelalterlichen Lederwerkstätten landeten ebenso in den Stadtbächen wie die Farbreste und Laugen der Färberbetriebe und die Fleischabfälle der Metzgereien. Am Katzenbach, berichtet der Historiker Michael Schattenhofer, "befand sich die 'Einschütt', wo die 'Nachtkönige' oder Nachtarbeiter, die zeitweise als 'Goldgrübler' genossenschaftlich organisierten Abortabräumer den Unflat und die Fäkalien aus den privaten und öffentlichen 'Prifets' oder 'heimlichen Gemächern' entleerten".

Den Unrat in einem fließenden Gewässer zu verklappen, betrachtete man damals als besonders clevere Art der Entsorgung, wie Christine Rädlinger in ihrem Buch "Geschichte der Münchner Stadtbäche" schreibt: "Stehendes Wasser birgt Gefahren, da hier die gefährlichen Dämpfe, die Miasmen, freigesetzt werden, fließendes Wasser dagegen trägt reinigende Kräfte in sich, die einerseits zur Verbesserung der Luft beitragen und andererseits auch die Verunreinigung der Erdoberfläche vermeiden helfen, da sie die Abfälle nicht nur sichtbar wegtransportieren, sondern auch gleich 'umwandeln', also reinigen."

Dass diese Umwandlung nicht immer funktionierte, zeigt der Beschwerdebrief eines Bürgers um das Jahr 1780: "Die Stadtverwaltung lässt so wenig Wasser in den Färbergraben, dass der Unrat liegen bleibt. Tote Hunde und Katzen liegen frei da und verfaulen." Bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts galt München als eine der schmutzigsten Städte Europas.

Dass die in Kloaken verwandelten Bäche die Ausbreitung von Infektionskrankheiten aller Art begünstigten, versteht sich von selbst. Man hatte die Bakterien- und Virenschleudern direkt vor der Haustür, weshalb die Stadt immer wieder von Cholera- und Typhusepidemien heimgesucht wurde. Immerhin war man so schlau, die Bäche nicht auch noch als Trinkwasserquelle zu verwenden. Stattdessen nutzte man das Grundwasser, das man mittels privater und öffentlicher Schöpf- oder Ziehbrunnen aus der Tiefe holte.

Anfang des 16. Jahrhunderts legte die Stadt das erste Brunnhaus am Fuß des Rosenheimer Bergs an. Man sammelte dort Quell- oder Grundwasser in größerer Menge, pumpte es in einen Turm, sodass ein Gefälle entstand, welches die Weiterleitung per Holzröhren ermöglichte. Doch auch die Qualität des Grundwassers verschlechterte sich im Laufe der Jahrhunderte spürbar. Wer es trank, riskierte sein Leben.

Im Herbst 1854 brach in der Stadt abermals die Cholera aus, rund 3000 Münchner starben an ihren Folgen. Danach beauftragte man den Professor für medizinische Chemie Max von Pettenkofer, die Ursachen zu erforschen. Zwar vermutete Pettenkofer, die Brutstätte der Seuche sei der verdreckte Boden, doch er zog die richtigen Konsequenzen. Er entwarf ein Programm zur hygienischen Stadterneuerung, in dem das Wasser eine zentrale Rolle spielte: Seitdem entsorgt die Stadt ihre Abwässer über eine moderne Kanalisation, während sie ihr Trinkwasser aus dem Mangfalltal bezieht.

Noch heute kann die Isar gefährlich anschwellen, doch übt der 1959 fertiggestellte Sylvensteinspeicher eine mäßigende Wirkung aus. Zuvor war der Fluss ein Quell ständigen Unheils. Die Stadtchronik ist voll von einschlägigen Berichten. Immer wieder beschädigte oder zerstörte das "frei gewaltig wazzer" die hölzerne Isarbrücke, so auch im Jahr 1367, was die Stadt 12 Pfund, 3 Schillinge und 22 Pfennige kostete plus die Ausgaben für die Fährdienste der Fischer, "di die läut über die Yser fuorten". Regelmäßig überflutete der Fluss die ufernahen Bereiche außerhalb der Stadtmauern, wo vor allem ärmere Leute lebten.

Im August 1598, so die Stadtchronik, ist die Au "ein lauterer see gewesen". Handwerksbetriebe wurden beschädigt, die Kraut- und Obstgärten überflutet sowie "vil holz, heuser und anderes wegg gefüertt und sonsten vich und leuth umb das leben gebracht".

Die wohl schlimmste Hochwasserkatastrophe verzeichnet die Stadtchronik am 13. September 1813: "Seit Tagen ist Hochwasser, das in der Au schon Häuser unterspülte und zum Einsturz brachte. Viele Leute stehen den ganzen Tag über und gegen Abend auf der äußeren Isarbrücke und sehen dem Unheil zu, andere sind auf dem Heimweg nach Haidhausen, als um 6 1/3 Uhr einige Bögen der gemauerten Brücke in das Wasser stürzen. Außer einem Chevauleger, der gut schwimmen konnte, wurde niemand gerettet. Es kamen mehr als 100 Menschen um."

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Quelle:
SZ vom 16.08.2021
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