Süddeutsche Zeitung

Von München nach Sylt:Sieben Etappen, 950 Kilometer, 53 Stunden Fahrtzeit

Lesezeit: 3 min

Staffelei, Staubsauger und Schrauber: Der Handwerker Ralph Kilian fährt sein Werkzeug mit einem Lastenrad durch die Stadt. Jetzt will er damit nach Sylt aufbrechen. Wieso macht er das?

Von Julian Limmer, München

Ralph Kilian, 48, kramt seinen Plan hervor. Seine von der Kälte geröteten Finger greifen zu einer Ledertasche. Sie liegt direkt neben der schwarzen Box, in die er alles gepackt hat, was er den Tag über braucht: einen Industriestaubsauger, Arbeitshandschuhe, Akkuschrauber und eine kleine Holzstaffelei. Die 1,1 Meter lange Kiste hat er zwischen Vorderrad und Lenker seines Fahrzeugs montiert. Kilian fährt Lastenrad. Damit will er in etwa einer Woche zur Nordsee aufbrechen - bis nach Sylt. Das ist sein Plan, er hat alles akribisch genau auf einem Zettel notiert: sieben Etappen, 950 Kilometer, 3800 Höhenmeter, 53 Stunden Fahrtzeit. Das macht er nicht zum Spaß, zumindest nicht nur. Er verfolgt ein Ziel, sozusagen eine kleine Mission. Er will mit der Reise erreichen, dass mehr Handwerker wie er aufs Lastenrad umsteigen.

Ralph Kilian - hageres Gesicht, Vollbart, grau meliertes Haar, leichte Geheimratsecken - kommt gerade von einem Auftrag. Er steht mit seinem Rad auf einem Parkplatz in der Nähe des Leonrodplatzes. Er hat zuvor Türen in einer Wohnung lasiert, auf seiner Regenjacke sind weiße Farbkleckse. Kilian hat einen Einmannbetrieb, in dem er sich hauptsächlich um Malerarbeiten im Holz- und Bautenschutz kümmert. Zum Handwerk ist der gelernte Fotograf vom Bodensee eher zufällig gekommen. Doch seit er vor 20 Jahren nach München gezogen ist, verdient er damit nun schon sein Geld.

Die meiste Zeit davon ist er zu seinen Kunden, wie für einen Handwerker üblich, mit seinem Sprinter gefahren. Doch irgendwann hat es ihm gereicht: "Immer wieder brüllen einen Leute an, fahr dein Auto weg." Der Platzmangel, die Staus, das Hupen, das mache einen schon mal wütend. Durch Freunde ist er deshalb auf die Idee gekommen, von vier auf zwei Räder umzusteigen. Im vergangenen September kaufte er dann das Lastenrad. Knapp 6 000 Euro hat es gekostet, das sei schon eine Ansage. "Aber jetzt bin ich gottfroh, dass ich es habe", fügt er in leichtem Schwäbisch an.

Seinen Sprinter besitzt er zwar noch, doch er nutzt ihn nicht mehr so oft. Grinsend zeigt er auf seinen Tacho: 1367 Kilometer - so weit ist er seitdem fast ausschließlich innerhalb der Stadtgrenzen gefahren. Nur im Winter ließ er das Rad meistens stehen.

Auch heute war er zu dem Kunden mit dem Lastenrad gekommen, knapp zehn Kilometer war er durch die Stadt unterwegs. Trotz leichtem Schnee und Wind, kein Problem: "Ich war sogar zehn Minuten schneller als gestern mit dem Auto", sagt er.

Ganz in der Nähe wartet ein Mann gerade mit Lieferwagen auf einem Parkplatz einer Wohnanlage vor einer Schranke, doch niemand öffnet. Er hupt, steigt aus, sucht nach Hilfe. Kilian lächelt: "Ich würde mit meinem Rad einfach vorbeifahren."

Für ihn bedeute das vor allem weniger Stress. Und außerdem: "Ich stinke auch nicht." Damit meint er, dass er mit seinem Rad nicht zur dicken Stadtluft beitrage. Denn neben seinen Beinen braucht er nur einen kleinen Elektromotor, um vorwärtszukommen. Die Umwelt ist ihm ein Anliegen.

Trotz der ganzen Vorzüge kenne Kilian keinen anderen Handwerker in München, der es ihm gleichtut. Ganz im Gegenteil, manchmal fühle er sich sogar belächelt. Kürzlich fragte ihn eine Frau, ob er denn keinen Führerschein mehr habe. "Ganz klassisch: Ein Handwerker, der trinkt sicher Alkohol, da stimmt was nicht. Dabei finde ich das ziemlich fortschrittlich, was ich mache." Um mit dem Image aufzuräumen und mehr Kollegen für das Lastenrad zu begeistern, hat er den Plan gefasst, nach Sylt zu fahren. Die Idee ist ihm spontan gekommen, Kilian ist ein Mann, der nicht lange zögert.

In sieben Tagen will er es schaffen - das heißt, zwischen 120 und 150 Kilometer pro Tag. Vorausgesetzt die Pandemie lässt es zu. Für die Reise hat er sich drei zusätzliche Ersatzakkus besorgt.

Warum Sylt? Weil das der Ort sei, der innerhalb Deutschlands am weitesten von München entfernt ist. Damit will Kilian zeigen, was mit einem Lastenrad alles möglich ist. Wenn er es bis an die Nordsee damit schaffe, dann dürfte es für Kollegen doch kein Problem sein, mit ein bisschen Werkzeug durch die Stadt zu radeln - zumindest für kleinere Aufträge. "Ich denke, das müsste doch die Zukunft in Städten sein."

Macht er das also, um für eine autofreie Utopie zu werben? "Mir würde es schon reichen, wenn ich nach meiner Reise ein paar Kollegen treffen würde, die auch mit dem Rad unterwegs sind", sagt er.

Doch ein klein bisschen politisch soll seine Reise dann doch sein. Denn er finde, dass München in puncto Fahrradfreundlichkeit schon noch Luft nach oben habe. Es passiere gerade schon einiges, das will er nicht kleinreden, doch ein bisschen mehr Platz für Radler sei schon noch drin. Wenn es ihm nun gelingt, mehr Handwerker für das Rad zu motivieren, könnte das einen Anreiz dafür schaffen.

Also irgendwann doch eine autofreie Stadt? "Nein, es wäre schon ein Riesenfortschritt, wenn das Rad dem Auto irgendwann gleichgestellt wäre." Er zieht seine Lederhandschuhe über, setzt den Helm auf, dann ein kurzes Summen des Elektromotors und Kilian biegt auf dem Gehsteig um die Ecke.

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Quelle:
SZ vom 17.04.2021
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