Süddeutsche Zeitung

Corso Leopold:Wie in besseren Zeiten

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Feiernde und Tanzende drängen sich auf der Leopoldstraße zwischen Bratwurstbuden und Bierbänken. Beim Corso bleiben Autos, Krieg und Pandemie draußen - fast zumindest.

Von Bernd Kastner

München ist ausgehungert. "Stehen Sie alle hier an?", fragt ein Mann die Menschen vor ihm. Die Schlange ist kaum zu unterscheiden vom Gedränge und Geschiebe rund herum, aber ja, sie stehen alle an, die Reihe führt zu einer Bratwurst- und Grillbude. "Zwiebel drauf?", ruft eine Frau hinter den Tresen. Sie hat ein Ja vernommen, denn sie packt Zwiebel auf ein Stück Fleisch, oben und unten eine Semmelhälfte, der Nächste bitte. Samstag, früher Abend, Leopoldstraße. Vermutlich verlangt München nicht nur nach Wurst und Bier, sondern hungert auch nach Lachen, Trinken, alles gemeinsam, nah und maskenlos. Es ist Corso Leopold zwischen Münchner Freiheit und Franz-Joseph-Straße, endlich mal wieder, nach zwei Jahren Pandemie-Pause.

Außer Gastro-Ständen ist nicht viel zu finden auf dem Corso, man muss fast suchen. Hier eine kleine Tanzfläche mit Livemusik, dort der Flughafen München, der fürs Fliegen wirbt, indem er potenzielle Passagiere Papierflieger in ein Loch werfen lässt, wobei das Loch die Sonne sein soll. An einem anderen Stand fragt ein sogenannter Aufsteller, wie man ihn von Messen kennt: "Du hast Lust auf einen spannenden Nebenjob mit flexiblen Arbeitszeiten und gutem Verdienst?" Mittels QR-Code kann man sich bewerben - als Hostess, Promoter oder Model. Und nicht weit weg hat die Deutsch-Israelische Gesellschaft einen winzigen Tisch aufgebaut, sie versuchen, Lust auf politische Bildung zu machen und bieten Stofftaschen an. Eine zeigt zwei sich zuprostende Krüge und die Aufschrift "A Mass statt Hamas".

Dem Corso fehlt in diesem Jahr die Verlängerung bis zur Feldherrnhalle, weil Green City das Streetlive Festival eingestellt hat. Und ob der Corso eine Zukunft hat, ist auch unsicher, Hauptorganisator Ekkehard Pascoe denkt mit 74 Jahren ans Aufhören und hofft auf Nachfolger.

Die Lust aufs Flanieren ist groß auf der Straße, die das natürliche Habitat von Männern mit lauten Autos ist. Sie müssen draußen bleiben an diesem Wochenende, wobei, gelockt werden sie doch. In einem roten Partyzelt darf man das Gewicht von Formel-1-Reifen schätzen. Als Gewinn gibt es ein Wochenende im Ferrari für 1500 Euro. Betrieben wird der Stand von einer Finanzagentur. Der Firmenchef versucht zu erklären, dass er ja eigentlich für das Gesundheitsprogramm einer Versicherungsgesellschaft werbe, je mehr Bewegung, desto besser. Warum dann kein Fahrradwochenende als Gewinn? "Ferrari zieht mehr bei den Leuten", sagt er. Zumindest bei denen mit viel Geld.

Auch die FDP lockt. Sie steht zusammen mit den anderen Parteien an der Münchner Freiheit, man erkennt den Raum zwischen den Polit-Ständen daran, dass man hier plötzlich Platz hat. Politik ist keine Bratwurst. Bei den Gelben ist noch am meisten los, was an ihrem Einhorn liegt. Das rosa Wesen haben sie aufgepustet - und herausgekommen ist eine Hüpfburg. Sie erinnert ein wenig an einen Drachen mit großem Schlund. Warum FDP und Einhorn? "Das ist eine gute Frage", sagt ein FDPler. Ein Kollege weiß Antwort: Die eigene Hüpfburg sei kaputt, deshalb habe man eine gemietet.

Irgendwo im Gewühl hat das "Neue Kunstforum" einen Stand, in dem es Bilder von Münchner Künstlern ausstellt, vor Wänden voller Zeitungen hängend. "Kleister mit Serifen" nennt Tobias Krug vom Seerosenkreis die geklebten Collagen, jedes Jahr kommt eine neue Schicht drauf. Die aktuelle erkennt man nicht nur daran, dass das Papier noch nicht vergilbt ist, sondern auch an den Zeitungstiteln. "Brüder, die mit Waffen kommen." Oder: "Unser Krieg." Die Welt im Jahr 2022, man hatte es fast vergessen zwischen so viel Normalität auf dem Corso. "Die Seele weint": Der Zeitungsschnipsel könnte der Titel für ein ganzes Jahr sein.

Vorm Karstadt hat ein Radiosender seine große Bühne aufgebaut. Eine Band spielt und singt, und einer ruft dem Publikum zu: "Let's go back to the fucking nineties!" Eine Zeitreise in die friedliche Vergangenheit? Let's go!

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