Süddeutsche Zeitung

Null Acht Neun:Das Virus und der Mangel

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Das größte Problem der Münchnerinnen und Münchner war vor zwei Jahren, dass es keine Rolex-Uhren mehr gab. Und heute? Da tragen sie sie ins Pfandleihhaus.

Glosse von Anna Hoben

Wenn der anstehende Booster-Termin einen bis in die Nacht verfolgt und man davon träumt, dass einem Karl Lauterbach persönlich den Piks verabreicht, dann ist es wohl Zeit für Weihnachtsferien. Das Jahr begann ja mit Impfstoffmangel, und es endet mit Impfstoffmangel. Dazwischen gab es alle möglichen Mangelvarianten. Die Seuche hat zu einer Mangelwirtschaft geführt. Da ist der Mangel an Rohstoffen und Material: Spanplatten, Stahl, Kunststoffe, Holz. Da ist der Mangel an Halbleiter-Chips, der wiederum unter anderem zum Mangel an möglichen Weihnachtsgeschenken führt. Schon Ende Oktober wurde gewarnt, was alles knapp werden könnte: Smartphones, Spielekonsolen, Waschmaschinen. (Wer wünscht sich bloß eine Waschmaschine zu Weihnachten?)

Was waren das noch für Zeiten, damals, vor zwei Jahren. Bis zur ersten Meldung über das "neuartige Coronavirus" sollten noch mehrere Tage vergehen. Die Münchnerinnen und Münchner lebten in seliger Vorahnungslosigkeit, ihr größtes Problem war ein Mangel an einem zugegebenermaßen in dieser Stadt nicht unbedeutenden Produkt: der Rolex-Uhr. "Wie jedermann weiß, ist es völlig unmöglich, zumal in München, eine verlässliche Zeitauskunft zu erhalten, wenn man keine Rolex am Handgelenk trägt", schrieb die SZ. Der Boulevard rief die "Rolex-Krise" aus. So etwas habe er in all seinen Jahren noch nie erlebt, sagte ein Uhrenhändler der Abendzeitung. Die begehrten Uhren seien komplett ausverkauft, die Wartelisten ewig. Ein besonders schwer zu kriegendes Exemplar trug intern den Spitznamen "Waiting List".

Ein paar Monate später hatte sich die Krise auf die Mangelwaren Klopapier, Nudeln und Hefe verlagert. So schnell kann's gehen. Und so mancher wünschte sich wohl, er hätte keine Uhr am Handgelenk, die ihn daran erinnerte, wie zäh die Zeit im Lockdown verfloss. Damals jedenfalls, kurz vor Weihnachten 2019, hatten die Münchner alle Rolex-Uhren aufgekauft. Und heute? Heute tragen sie sie wegen der Coronakrise ins Pfandleihhaus, wie die Bild gerade berichtet hat.

Was den Mangel in der vierten Seuchenwelle betrifft, so erstreckt sich dieser nun auch wieder auf die sozialen Kontakte. Es gibt einen Mangel an Weihnachtsfeiern, an Christkindlmarkttreffen mit pappigem Glühwein, an Ausgelassenheit. Und so ist dieses Jahresende auch geprägt von der Sehnsucht nach einer Zeit, in der das größte Problem in München eine ausverkaufte Luxus-Uhr war.

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