Süddeutsche Zeitung

Auswirkungen der Corona-Krise:Zahl der neuen Hartz-IV-Anträge hat sich verfünffacht

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Vor allem Kurzarbeiter mit niedrigen Löhnen und Selbstständige sind auf Hilfe angewiesen. Und das Münchner Jobcenter befürchtet: Das Problem wird noch größer.

Von Sven Loerzer

Die Auswirkungen der Corona-Krise zeigen sich schon jetzt auch beim Jobcenter München: Die Zahl der Neuanträge auf Hartz-IV-Leistungen hat sich in den vergangenen vier Wochen auf etwa 4700 verfünffacht gegenüber dem Monatsdurchschnitt zuvor. Besonders Freiberufler, Solo-Selbständige und Kurzarbeiter aus Niedriglohnsektoren trifft die Krise, viele von ihnen werden wohl auch in den nächsten Monaten Hilfe suchen müssen.

Jobcenter-Geschäftsführerin Anette Farrenkopf geht davon aus, dass die Zahlen weiter stark steigen. München sei besonders betroffen wegen seiner vielfältigen Kunst- und Kulturszene, die unter den Veranstaltungsabsagen leidet, und wegen des hohen Anteils von Beschäftigten im Dienstleistungsbereich. Für das Hotel- und Gaststättengewerbe etwa sehen die Perspektiven wegen der geschlossenen Betriebe und ausbleibender Touristen düster aus.

Dabei hatte alles zu Jahresbeginn noch so gut ausgesehen: Das Jobcenter konnte einen Rückgang der Arbeitssuchenden melden. Die Zahl der Hartz-IV-Haushalte war um rund sieben Prozent auf 36 000 mit insgesamt 70 000 Personen gesunken. Doch seitdem die Ausgangsbeschränkungen gelten und die Wirtschaft heruntergefahren wurde, steigt die Zahl deutlich. "Wir sind froh, dass wir durch das Ende März verabschiedete Sozialpaket des Bundes die Grundsicherung für Bürger, denen das Einkommen oder die wirtschaftliche Existenz wegbricht, unter erleichterten Bedingungen anbieten können", betont Farrenkopf. "Es erfolgt keine Vermögensprüfung, damit die Menschen nicht an ihre Notreserven gehen müssen." Die Grenze liege bei 60 000 Euro für sofort verwertbares Vermögen bei einer Person und 30 000 Euro bei jeder weiteren im Haushalt.

In den ersten sechs Monaten des Leistungsbezugs werden in dieser Krisenzeit, anders als sonst üblich, die Ausgaben für Wohnung und Heizung in tatsächlicher Höhe anerkannt. Der Antrag ist entsprechend einfacher und kürzer gestaltet worden. Auch für Menschen, die schon vor der Krise Hartz IV bezogen haben, erfolgt die Weiterbewilligung nun erst einmal automatisch.

Die etwa 1000 Mitarbeiter des Jobcenters sorgen in einem gewaltigen Kraftakt dafür, dass Menschen, die in diesen Zeiten in Not geraten, Hilfe erhalten, ohne dass die Gefahr einer Infektion besteht. Nur noch in besonderen Notfällen gibt es persönlichen Kontakt. Für die Jobcenter in den zwölf Sozialbürgerhäusern und in der zentralen Wohnungslosenhilfe sind Hotlines eingeführt worden, dort gibt es Hilfe zur Antragstellung, ein persönliches Erscheinen ist nicht erforderlich und derzeit nicht erwünscht. Der Leistungsbereich ist durch Umschichtung von Personal und auch mit Unterstützung der Stadt verstärkt worden. Zudem arbeiten viele Beschäftigte im Home-Office, um Ansteckungsrisiken in der Belegschaft zu verringern. Selbst wenn eines der Jobcenter wegen Corona-Fällen schließen müsste, sind alle Vorkehrungen getroffen, dass ein anderes Haus nahtlos übernehmen könnte.

Sichere Prognosen zur Entwicklung gibt es nicht. Das Herunterfahren des öffentlichen Lebens wird sich beim Jobcenter mit Verzögerung auswirken. So rechnet die Geschäftsführerin mit einem weiteren Anstieg von Anträgen Anfang Mai. Denn viele, die bereits im April nur noch Kurzarbeitergeld erhalten, wie etwa Friseure und Beschäftigte in der Gastronomie, dürften wohl erst nach der ersten Auszahlung feststellen, dass sie auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind, weil das Geld sonst nicht zum Leben reicht. Schon jetzt stammt etwa ein Viertel der Neuanträge auf ergänzende Grundsicherung von Kurzarbeitern. Die weitere Entwicklung ist schwer vorhersehbar, auch weil das Kurzarbeitergeld künftig aufgestockt werden soll. Andererseits dürfte auch die Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld zunehmen, die ergänzend Grundsicherung benötigen, weil sie im Niedriglohnbereich tätig waren.

Besonders betroffen sind auch die sogenannten Solo-Selbstständigen. Also zum Beispiel Taxifahrer, Musiklehrer mit Privatkunden, Künstler, Grafiker, Designer, Coaches, Fitnesstrainer, Dozenten und Freiberufler. Gerade sie sollten sich rechtzeitig um Unterstützung kümmern und nicht aus falschem Stolz zu lange abwarten, rät das Jobcenter. So zeige sich, dass viele Solo-Selbstständige auf die Corona-Soforthilfe des Freistaats setzten, doch die könne nicht den Lebensunterhalt der Antragsteller, sondern nur Betriebskosten ihrer Unternehmen abdecken.

Trotz der schwierigen Lage bemüht sich das Jobcenter, Menschen weiterhin in Arbeit zu vermitteln. Stellenangebote gebe es vor allem im Lebensmitteleinzelhandel und in der Logistik, auch die Landwirtschaft sucht Arbeitskräfte, was aber in München kaum eine Rolle spielt. Bedarf bestehe zudem in der Pflege und bei der Bahn, sagt Farrenkopf. Wenn die Beschränkungen für das öffentliche Leben wieder wegfallen, will das Jobcenter die nun stark eingeschränkten Qualifizierungsangebote fortsetzen: "Zwei Drittel unserer Kunden sind ungelernt oder ohne beruflichen Abschluss." In der Zwischenzeit bleibe nur, telefonisch den Kontakt zu halten, die Menschen nicht allein zu lassen.

Trotz aller Belastungen sei die Motivation großartig, sie spiegele den Zusammenhalt wider, der sich in München überall zeige: "Da packt jeder mit an im Wissen, dass sie die Leute mit Geld versorgen können, das dringend gebraucht wird." Je vollständiger die Anträge ausgefüllt sind, desto schneller gebe es Geld, betont Farrenkopf, im Schnitt liegt die Bearbeitungszeit bei acht Tagen.

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SZ vom 27.04.2020
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