Süddeutsche Zeitung

Bahnwärter Thiel:Ein Büro vier Meter über dem Boden

Lesezeit: 3 min

Daniel Hahn blickt vom Führerhaus einer ausrangierten U-Bahn auf die besprühten Schiffscontainer vom Bahnwärter Thiel und die MS Utting. Und um ihn herum: ein winziger Arbeitsplatz.

Von Michael Bremmer

In der Abendsonne ist das Büro am schönsten. Daniel Hahn geht dann vor in das Führerhaus seiner Münchner U-Bahn - ein Prototyp der Serie B - und schaut auf seinen kulturellen Abenteuerspielplatz. Auf den Kulturkutter auf der Eisenbahnbrücke, der von hier aus zu sehen ist. Auf einige seiner 60 mit Graffiti besprühten Seefrachtcontainer, die zum Teil übereinander gestapelt auf dem ehemaligen Viehhofgelände stehen. Vier Meter über dem Boden steht der Zug, den Daniel Hahn, 29, von einem Abstellgleis der Münchner Verkehrsbetriebe und somit auch vor dem weiteren Ausschlachten gerettet hat. Gut, die Original-Sitzflächen wurden zuvor schon in andere U-Bahnwagen eingebaut, das ärgert Hahn - aber so ist zumindest Platz für einen Besprechungstisch. Hat ja auch was.

Von der Fahrerkabine aus kann Daniel Hahn auch all die Veränderungen auf dem 1000 Quadratmeter großen Gelände beobachten. Die Kantine etwa, die gerade in einem weiteren U-Bahn-Wagen entsteht und schon bald von dem Verein Cooperative Beschützende Arbeitsstätten betrieben werden soll. Der Verein ist unter anderem für die Gastronomie in den Kammerspielen und der Filmhochschule verantwortlich. Hahn sieht von dort auch die Künstlerateliers, für die gerade die Container umgebaut werden - 25 000 Euro müssen hier jeweils investiert werden. Die Proberäume für Bands. Die Gemeinschaftsbeete. Der Jugendtreff samt Erfinderwerkstatt. "Munich's hip sides" schrieb der New Yorker im vergangenen Winter und zeigte ein Bild von "The alte Utting" mit den leuchtenden Lichterketten in der Abenddämmerung. Hahn hat München ein bisschen berühmter gemacht.

Eine Münchner U-Bahn hat Daniel Hahn in das Büro des Veranstaltungsortes Bahnwärter Thiel umgewandelt.

Manche Sitzgruppen waren bereits ausgeschlachtet, ...

... Aufkleber wie der Hinweis für Schwarzfahrer ...

... und alte U-Bahn-Technik sind immer noch erhalten.

Im Fahrerhaus hat Büroleiterin Aranka Haller ihr Büro bezogen. Geschäftsführer Hahn sitzt im Abteil dahinter. Er hat gerade einmal eineinhalb Quadratmeter zur Verfügung.

Um in sein Büro zu kommen, muss man vorbei an grünen Turnschuhen, die bepflanzt wurden, an drei Bienenvölkern auf einem Container und schließlich eine Wendeltreppe hochsteigen. An die 600 Veranstaltungen finden im Jahr im Bahnwärter Thiel statt, Elektropartys, Lesungen, Ausstellungen, Flohmärkte - all das wird in diesem U-Bahnwagen geplant.

Mehr als 100 Kollegen arbeiten im Bahnwärter Thiel, die meisten sind in der Nacht tätig - für Hahns Chefrolle reichen gerade mal eineinhalb Quadratmeter. Ein schlichter Tisch, darauf ein Laptop. Hinter ihm ein hüfthohes Regal, das noch nicht eingeräumt ist - erst vor einer Woche haben sie das Büro bezogen. Auf der Ablage liegen schwarze Kopfhörer. Daniel Hahn nimmt sie in die Hand, betrachtet sie zweifelnd. "Ich weiß nicht, was die hier machen", sagt er, "ich kann keine Musik hören, wenn ich arbeite, wenn ich mich konzentrieren muss." Ein Headset liegt parat, allerdings fehlt noch das Telefon am Schreibtisch.

Ein Foto mit Lebkuchenrand erinnert an den Teamausflug aufs Oktoberfest, an der Glasscheibe vor ihm klebt noch das Original-Piktogramm V20380 aus der U-Bahn: der Schwerbehinderten-Sitzplatz. An der Wand hängen zudem drei Fotos von der MS Utting - "die habe ich nur schnell aufgehängt, bevor der Fotograf kommt", sagt Hahn und grinst. Eine Tür weiter geht es in das Fahrerhaus, der eigentliche Chefplatz, den Hahn aber der Büroleiterin Aranka Haller überlassen hat - sie müsse schließlich häufig telefonieren und solle dabei nicht von den anderen gestört werden.

Am anderen Ende des Zugs sitzt Projektleiter Paul Müller, an der Glasscheibe hängen Zufahrtspläne zum Münchner Flughafenterminal - seit diesem Montag baut Hahns Truppe zwei Boardingstationen, zwei Fluggastbrücken und einen Fluggaststeg ab, der später mal eine weitere Kultureinrichtung werden soll - vorausgesetzt, Hahn findet rechtzeitig ein geeignetes Gelände. Die Verhandlungen laufen noch. Im nächsten Abteil sitzt Moritz Butschek, ein Elektro-DJ, der auch für Programmplanung im Bahnwärter Thiel zuständig ist. An der Tür hängt ein Plakat mit Fotos von Andreas Bohnenstengel vom Pferdemarkt. Auch in den Neunzigerjahren gab es offensichtlich im Viehhof einige Attraktionen.

Eine U-Bahn wird im Normalbetrieb durch die Bremsanlage geheizt - im Stillstand hilft das natürlich wenig. Deswegen baut Hahn in den nächsten Tagen einen Schwedenofen ein, die Einzelteile stehen noch verpackt im Gang. Pellets werden dann gut sichtbar hinter einer transparenten Scheibe verbrannt, in die U-Bahn-Tür wird noch ein Abluftrohr eingebaut. Gegenüber des Ofens steht ein Sofa. Wird es in ein paar Wochen bitterkalt werden, wird dort der gemütlichste Platz im Büro vom Bahnwärter Thiel sein.

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Quelle:
SZ vom 15.10.2019
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