Süddeutsche Zeitung

Umstrittene Corona-Regel:Reiters gefährliches Beharren auf dem Alkoholverbot

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Der Münchner Oberbürgermeister hält daran fest, obwohl es ihm ein Gericht um die Ohren gehauen hat. Formal ist das rechtens, weil sich der Richterspruch nur auf einen Einzelfall bezieht. Unklug ist es trotzdem.

Kommentar von Kassian Stroh

Als Politiker über Corona-Einschränkungen entscheiden zu müssen, ist in diesen Tagen alles andere als eine dankbare Aufgabe. Da geht es um tiefe Eingriffe in die Grundrechte jedes einzelnen. Wer sie beschließt, muss mit Augenmaß vorgehen und gründlich alle möglichen Folgen abwägen. Wer Freiheiten nimmt - und sei es nur die, auch nach 23 Uhr allein auf einer Parkbank ein Bier trinken zu dürfen -, der muss zweierlei liefern: einen guten Grund dafür und den Nachweis, dass er diese Einschränkung auf das wirklich Nötige begrenzt hat.

Ersteres hatte die Stadt München für ihr Verbot, nachts in der Öffentlichkeit Alkohol zu sich zu nehmen: die Bekämpfung der Corona-Pandemie. Bei dem zweiten Punkt aber wird es schwieriger: Die Stadt hat das Trinkverbot zwar deutlich begrenzt auf die Zeit zwischen 23 Uhr bis sechs Uhr morgens, zugleich aber für das ganze Stadtgebiet ausgesprochen. Genau das ist ihr vom Verwaltungsgericht nun als unverhältnismäßig um die Ohren gehauen worden.

Das allein ist kein Drama, sondern ein Beleg dafür, dass es - entgegen aller Behauptungen von Verschwörungsideologen - hierzulande eine funktionierende Gewaltenteilung gibt. Nur: Wie die Stadt mit diesem Richterspruch umgeht, ist unklug. Bis die nächsthöhere Instanz, der Verwaltungsgerichtshof, entschieden habe, setze man das Trinkverbot weiter um, ließ Oberbürgermeister Dieter Reiter postwendend wissen.

Formal ist das rechtens - der Beschluss galt nur in einem Einzelfall, er hat die Regel nicht allgemein gekippt. Das Signal aber ist gefährlich. Es kann diejenigen bestärken, die die unsinnige Mär verbreiten, Corona sei nur ein Vorwand für die Regierenden, um Grundrechte auszuhöhlen. Es kann die Kritiker der Corona-Einschränkungen ermuntern, ihrerseits Gerichtsbeschlüsse zu ignorieren, solange nicht die oberste Instanz gesprochen hat.

Dabei hätte es eine gute Alternative gegeben. Die Stadt hätte sagen können: Na gut, wir sehen das zwar anders als die Richter, aber trotzdem setzen wir das Verbot erst einmal außer Vollzug, bis der Verwaltungsgerichtshof am Montag entschieden hat. Was hätte Reiter damit verloren? Faktisch hätte sich nichts geändert, denn die wenigen, die in diesen verregneten Wochenendnächten im Freien ein Bier getrunken hätten, sind sicher kein unkontrollierbares Infektionsrisiko. Die Stadt wiederum hätte gezeigt, dass sie mit Augenmaß handelt und nur im allernötigsten Fall Grundrechte einschränkt. So aber hinterlässt ihr Vorgehen für alle künftigen Fälle einen unguten Nachgeschmack.

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SZ vom 31.08.2020
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