Süddeutsche Zeitung

Leichenfund in Kompostieranlage:Eine Tote, die niemand vermisst

Lesezeit: 3 Min.

"Über kurz oder lang wird sie jemandem abgehen": Die Leiche der jungen Frau, die in einer Kompostieranlage in Großhadern gefunden wurde, gibt der Polizei Rätsel auf. Nun beginnt für die Ermittler die mühevolle Kleinarbeit, um die Tote zu identifizieren.

Von Susi Wimmer

Mindestens zwei Wochen lang muss die Leiche der zierlichen Frau im Wasserbecken der städtischen Kompostieranlage in Großhadern getrieben sein. Zwei Wochen, in denen niemand die etwa 20-Jährige vermisst hat. Bislang scheint es weder Familie noch Angehörige oder Freunde zu geben, die das Verschwinden der Frau bei der Polizei gemeldet haben.

Seit dem Fund der Leiche am Freitag ist immer noch unklar und mysteriös, wie die Unbekannte zu Tode kam - und wer sie ist. "Aber über kurz oder lang wird sie jemandem abgehen", ist sich Klaus Gmelch, Leiter der Vermisstenstelle am Polizeipräsidium München, sicher.

Die tote Frau, die ein Mitarbeiter der Kompostieranlage unter der geschlossenen Eisdecke der Senkgrube entdeckte, war gut gekleidet: Mustang-Jeans, neue Stiefeletten von Paul Green. Merkwürdigerweise trug sie keine Jacke und auch kein einziges Schmuckstück. Und wie kam sie auf das umzäunte Gelände der städtischen Kompostieranlage? Sicher ist, dass sie noch lebte, als sie in das Wasserbecken fiel: Rechtsmediziner stellten bei der Obduktion Wasser in ihren Lungen fest.

Vermisstendateien werden geprüft

Eines hat der Erste Kriminalhauptkommissar Klaus Gmelch als Leiter der Vermisstenstelle gelernt: "Es gibt nichts, was es nicht gibt." Was heißt, dass es für zunächst mysteriös erscheinende Umstände oft ganz einfache Erklärungen gibt. Die Kollegen von der Mordkommission oder die Todesermittler rufen das Kommissariat 14 zu Hilfe, wenn es um die Identifizierung von unbekannten Toten geht. Die Ermittler der Vermisstenstelle gleichen die Beschreibung der Toten mit ihren Vermisstenmeldungen ab, selbstverständlich werden auch Fingerabdrücke und DNA untersucht. Im Fall der Toten aus Großhadern überprüft das Bundeskriminalamt die Vermisstendateien aus ganz Deutschland.

Im nächsten Schritt konzentrieren sich die Polizisten auf die individuellen Merkmale der unbekannten Leichen: Trug der Tote beispielsweise eine Brille, wo könnte er sie gekauft haben? Gibt es eine auffällige Tätowierung oder vielleicht eine künstliche Hüfte? Dann beginnt die Kleinarbeit: Im Zweifelsfall werden Krankenhäuser abtelefoniert oder Hersteller von künstlichen Hüftgelenken kontaktiert. Markant etwa war das Schuhwerk der toten Frau aus der Sickergrube: Sie trug neue, dunkelblaue Schnürstiefletten der Modellreihe "Paul Green München". Die Ermittler können nun überprüfen: Welche Schuhgeschäfte verkaufen diese Marke und gibt es noch Belege von Kunden, die diese Schuhe gekauft haben.

Wo niemand wartet

Dass es Tote gibt, die niemand vermisst, auch das kommt vor. "Wenn jemand sein Umfeld verlassen hat, geht er niemandem ab." Das hat Klaus Gmelch schon häufig erfahren: ein Wohnsitzloser etwa, Menschen mit wenigen sozialen Bindungen oder solche, die sagen, sie gehen auf eine Weltreise. Gmelch erzählt von einer jungen Hamburgerin, die ihrer Familie verkündete, sie werde nach München ziehen und außerdem eine Weltreise antreten. Dann hörte die Familie nichts mehr von ihr. Tatsächlich hatte die junge Frau psychische Probleme, stürzte sich in München von einem Hochhaus in den Tod. Lange Zeit konnten die Ermittler die Tote nicht identifizieren. Erst einen Monat später gab die Familie eine Vermisstenanzeige auf.

Nach wie vor ungeklärt ist der Fall des Mannes, der am 2. Juli 2012 im Englischen Garten in einem Gebüsch verbrannte. Die Umstände des Todes sowie die Identität des Mannes bleiben ein Rätsel. Am 8. Juni 2010 fand eine Spaziergängerin im Hans-Fischer-Park im Westend außerdem die Leiche eines etwa 50-Jährigen. Der Mann war vermutlich an Unterkühlung gestorben. Wer er ist, konnten die Ermittler bis heute ebenfalls nicht herausfinden.

Die Polizei kann bisher nur spekulieren

Vielleicht war die unbekannte tote Frau aus der Kompostieranlage nur zu Besuch in München. Vielleicht ging sie hier einer Arbeit nach, stammte aus einem anderen Land und war in München nicht gemeldet. Bislang kann die Polizei nur spekulieren. Auch die fünf Hinweise, die bis dato bei der Polizei eingingen, brachten die Ermittler nicht weiter. Momentan ermittelt die Mordkommission, wenngleich es bislang keine Hinweise auf ein Gewaltverbrechen gibt. Laut Obduktion ist die Frau ertrunken. Ob sie Drogen, Tabletten oder Alkohol zu sich genommen hatte, wird erst das chemisch-toxikologische Gutachten klären.

Das K 14 unterstützt die Ermittlungen der Mordkommission und hat unter anderem ein Auge auf alle aktuell eingehenden Vermisstenmeldungen - täglich sind das zehn bis 15. Allerdings bleiben von den jährlich rund 4000 Vermissten-Meldungen zwei bis drei Fälle übrig, "wo wir nicht weiterkommen und keinen Grund finden, warum die Person verschwunden ist".

Generell übernimmt das Team von Klaus Gmelch nicht jeden Vermisstenfall. Denn oftmals haben Erwachsene gute Gründe, warum sie einfach verschwinden und die Ermittler müssen sich die Frage stellen: Will der Vermisste überhaupt, dass wir ihn suchen? Wenn die Polizisten aber der Meinung sind, dass der Verschwundene Opfer einer Straftat geworden sein könnte oder wenn Gefahr "für Leib und Leben" besteht, etwa durch Krankheit, Demenz, Suizidgedanken, dann werden die Ermittler des Kommissariats 14 aktiv; und, natürlich, wenn Kinder oder Jugendliche vermisst werden.

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Quelle:
SZ vom 08.01.2014
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