Süddeutsche Zeitung

Zwangsräumung in Taufkirchen:"Ich habe es vor mir hergeschoben"

Lesezeit: 7 min

Erst verliert Bernhard Müller den Job, dann die Ersparnisse und am Ende die Wohnung. In einem Münchner Männerwohnheim versucht er einen Neuanfang.

Von Christina Hertel

In der Nacht vor dem Morgen, von dem er glaubt, dass er an diesem seine Wohnung für immer verlassen müsse, packt er zwei Rucksäcke und eine Reisetasche. Hinein stopft er Dinge, die er nicht nachkaufen kann: Fotos, Arbeitszeugnisse, Lebenslauf. Dazu Dinge, die er täglich braucht: ein paar Unterhosen, T-Shirts, Jacke, Shampoo. Und Dinge, die unter einer Brücke nützlich sein könnten: Schlafsack, Zelt, Luftmatratze.

Dass nach dieser Nacht der Gerichtsvollzieher klingeln, der Hausmeister das Schloss austauschen, dass dann die Türe hinter ihm zufallen und sich für ihn nicht mehr öffnen würde, habe er seit Wochen gewusst, sagt Berhard Müller (Name geändert). "Ich habe es vor mir hergeschoben. Aber irgendwann erschlägt es dich." Der 44-Jährige sagt "es" und meint die Briefe, E-Mails, Anrufe, die er bekam, weil er fast eineinhalb Jahre keine Miete bezahlte, und die er bis zu diesem Freitag Ende April alle ignorierte.

Fast 15 Jahre lebte der Taufkirchner in der Wohnung: 55 Quadratmeter, zwei Zimmer, kleine Küchenzeile. Vom Balkon aus sieht man auf einen Hinterhof mit vielen Bäumen, in der Nähe sind Felder, vor der Haustür fahren so wenige Autos, dass Kinder auf der Straße spielen könnten. Jetzt sitzt der große, kräftige Mann in einem Zimmer eines Männerwohnheims im Münchner Süden, trinkt Filterkaffee aus einer Tasse mit kleinen Marienkäfern drauf. Vor seiner Zimmertür hängt ein Bild, das nach Action-Painting aussieht: viel Farbe auf einer Leinwand verspritzt, das große Chaos. Innen sind die Wände kahl.

Es stehen sechs Kartons im Raum, größtenteils voll mit Büchern: Science-Fiction, Thriller, Fantasy. Eine E-Gitarre. Zwei weiße Göttinnen, vielleicht 20 Zentimeter groß, Mitbringsel aus einem Griechenland-Urlaub. Ein Flachbildfernseher. Ein Ölgemälde mit dickem Holzrahmen, das seinen Großvater in Uniform zeigt, umgedreht gegen die Wand gelehnt. Das alles konnte Müller noch aus seiner Wohnung holen, seine Möbel landeten auf einer Müllkippe.

Zwei Jahre vor der Wohnung verlor der gelernte Lagerist seine Arbeit. Zuerst habe er gedacht: "Du findest schon wieder was. Das wird schon." Als er langsam daran zu zweifeln begann, als sich in ihm eine Mischung aus Verdrängung und Scham breit machte und ihn regelrecht lähmte, passierte das, was er sich heute selbst nicht mehr richtig erklären kann: Er beantragte kein Arbeitslosengeld, zwei Jahre lang nicht. "Ich Trottel", sagt Müller. "Es wäre ein Gang zum Amt gewesen und ich würde immer noch in der Wohnung leben."

Seine Vermieterin, sagt Bernhard Müller, sei eine nette Frau. An einem Nachmittag Anfang Juli, fast zehn Wochen nach der Räumung, trifft er ihren Mann an der Wohnung in Taufkirchen. Karl-Heinz Bosch ist 78, früher baute er Staudämme und U-Bahnen in Afrika, heute hilft er Flüchtlingen beim Deutschlernen. Er hält einen Stoffbeutel in der Hand, trägt einen kakifarbenen Anorak, sein Bart ist weiß, die Haare sind es auch. Er steht neben einem Eimer Farbe in der leeren Wohnung, die inzwischen eine neue Küchenzeile, neue weiße Badfliesen und einen neuen grauen Laminatboden hat. Seine Frau hat die Wohnung 2013 gekauft, um ihre Rente aufzubessern.

Während Bosch sich oben umschaut, wartet Müller unten vor der Haustür. Er ist gekommen, weil er einen Zettel unterschreiben soll, wonach seine Vermieterin die Kaution behalten darf. Seine Schuld soll ein wenig kleiner werden. Eines Tages, sagt Müller, würde er sie gerne ganz begleichen. "Das alles ist mir natürlich unangenehm." So sehr, dass er heute am liebsten nicht gekommen wäre. "Aber ich will dem Herrn Bosch ja zeigen, dass ich kein komplettes Arschloch bin."

Um den 44-Jährigen aus der Wohnung zu bekommen, haben Bosch und seine Frau eine Summe mit vielen Nullen bezahlt, deren Anzahl sie nicht nennen wollen. Sie verraten nur, dass es sehr viel Geld gewesen sei für Anwälte, Gerichtsvollzieher, Entrümpler. Das alles, da seien sie sich relativ sicher, sei futsch. Sie könnten ihren ehemaligen Mieter verklagen.

Aber was, fragt Bosch, sollte das bringen? In ihm sei kein Hass, nicht mal Ärger. "Er tut mir leid", sagt Bosch oben in der Wohnung. "Es tut mir leid", sagt Müller unten vor der Haustür. Beide meinen, dass es nicht so weit hätte kommen müssen, wenn sie früher gewusst hätten, dass es Menschen wie Janett Bodemann gibt, eine Sozialarbeiterin der Arbeiterwohlfahrt, 39 Jahre alt, grün-gesträhntes Haar, mit einem Hund an der Leine, gerade mal so groß, dass er in eine Handtasche passen würde.

Allein dieses Jahr kümmerten sich Bodemann und ihre Kollegin um 24 Menschen im Landkreis München, denen die Zwangsräumung drohte. In ihrem Beruf treffe sie auf Selbstständige aus Grünwald im Maßanzug, die keine Aufträge mehr bekommen, 80-jährige Frauen mit Rollator, die plötzlich aus der Wohnung müssen, weil der Vermieter sie angeblich selbst braucht. Oder weil er sie aufhübschen und mehr Geld will. Alleinerziehende, Kinder, psychisch Kranke.

Es werden immer mehr Menschen, immer mehr Probleme: 367 Menschen musste die Wohnungslosenhilfe der Arbeiterwohlfahrt 2018 in eine Notunterkunft einweisen, 40 Prozent mehr als vier Jahre zuvor. 36 Kinder verloren 2014 ihr Zuhause. Vier Jahre später waren es fast dreimal so viele. In vielen Fällen, ist die Sozialarbeiterin überzeugt, hätte man dies verhindern können, wenn sich die Betroffenen früher bei ihr gemeldet hätten. Aber viele würden sich genauso verhalten wie Bernhard Müller: so lange verdrängen, bis der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht.

Etwa drei Wochen vor einem Zwangsräumungstermin, den Sozialarbeiterin Bodemann in seinem Fall nur den "Tag X" nennt, geben ihr Gerichtsvollzieher oder Gemeinden Bescheid. Dann schreibt sie E-Mails und Briefe an die Mieter. Wenn niemand antwortet, steckt sie handgeschriebene Zettel in die Briefkästen. Bodemann ruft an, klingelt an Haustüren, weil sie mit Mietern, Vermietern, Gemeinden sprechen will, um zu verhindern, dass ein Mensch obdachlos wird.

Bei 25 Haushalten sei ihrer Stelle das in diesem Jahr gelungen, bei sieben Haushalten arbeite sie gerade daran, bei sechs klappte es nicht - so wie bei Bernhard Müller. Und so stand sie an einem Freitag Ende April neben ihm, als um acht Uhr morgens der Gerichtsvollzieher, der Hausmeister, die Vermieterin und ihr Anwalt klingelten.

Bis vor etwa zwei Jahren sei sein Leben normal gewesen, sagt Müller. Er arbeitete in einer Zeitarbeitsfirma. Dann bekam er neue Chefs, die ihn erst immer seltener und schließlich gar nicht mehr vermittelten. "Vielleicht", sagt Müller, "haben sie nur einen Mann mit schlechten Zähnen, einem kaputten Auge und etwas Übergewicht gesehen. Vielleicht nicht, dass ich 20 Jahre Erfahrung in dem Job habe."

Als Müller arbeitslos wird, hat er noch 12 000 Euro auf seinem Konto: eine Erbschaft, die Abfindung, Gespartes. Nach etwa einem halben Jahr sei das Geld weg gewesen. Nach und nach verkaufte er seine Playstation, den alten Fernseher, Spiele, Bücher. Seine beste Freundin habe er manchmal nach etwas Wurst und Brot gefragt. Und sich sonst von Nudeln mit Ketchup ernährt. "Oder Reis mit Ketchup. Zur Abwechslung." Größere Summen Geld habe er sich nicht geliehen. Weil er nicht gewusst hätte von wem. Weil es ihm unangenehm gewesen wäre. "Weil ich Stolz hatte", sagt Müller. "Oder habe." Pause. "Weil ich mir ein bisschen Restwürde bewahren wollte." Pause. "Oder ja auch noch habe."

Als ob es los zur Arbeit ginge, sei er jeden Morgen aufgestanden, habe geduscht, frische Klamotten angezogen und sich dann aufs Bett gesetzt und den Fernseher eingeschaltet. Vielleicht 150 Bewerbungen habe er in den zwei Jahren geschrieben, aber meistens nicht einmal eine Antwort erhalten. Nach ein paar Monaten kopierte er bloß noch den Text, dann verschickte er gar nichts mehr. "Abends", sagt Müller, "kamen die Gedanken, die kreisten." Um einzuschlafen, trank er erst ein, zwei Flaschen Bier, später seien daraus fünf, sechs und eine Flasche Wodka geworden. Oder Whiskey und Wein, manchmal drei Liter aus Tetrapacks, je nachdem für was das Geld gerade reichte. Immer erst nach 18 Uhr.

"Ich wollte kein Alkoholiker sein", sagt Müller. "Ich wollte bloß schlafen." Den Strom bezahlte er immer, kurz bevor er abgeschaltet wurde. Für die Miete reichte es nicht mehr. "Am Anfang habe ich zu meinen Vermietern gesagt: Ich überweise das Geld nächsten Monat. Versprochen. Ehrlich. Aber irgendwann habe ich das selber nicht mehr geglaubt." Dann hob er das Telefon nicht mehr ab, beantwortete keine E-Mails mehr, machte die Tür nicht mehr auf.

Im Dezember beschloss Eigentümerin Karin Bosch den Weg einzuleiten, der für Bernhard Müller am 27. April mit der Zwangsräumung endete: Sie erhob beim Amtsgericht eine Räumungsklage, dann beauftragten sie einen Gerichtsvollzieher. Drei Wochen vor seinem persönlichen Tag X erhielt Müller einen Brief mit dem Termin. Doch erst einen Tag vorher ging er zum Taufkirchener Rathaus. Dort drückten sie ihm einen Schein für eine Pension in die Hand. In Deutschland, meinten sie zu ihm, müsse niemand auf der Straße leben.

Doch als Müller am nächsten Morgen mit der Sozialarbeiterin Janett Bodemann das Haus verlässt, erzählt er ihr, dass er sich lieber umbringen wolle, als in diese Pension zu ziehen. Am Abend schläft Müller in einem Krankenhausflur in Haar ein - geschlossene Psychiatrie. Ein Wochenende lang spricht Müller mit niemanden, er fragt sich nur: "Warum habe ich die ganze Zeit nichts gemacht?" Die Psychologen bezeichnen dieses Verhalten später als Blockade. Eine Ursache nennen sie nicht, teilen Müller aber mit, dass er nicht ewig in der Klinik bleiben könne. Der 44-Jährige schickt Faxe an Wohnheime: "Suche dringend Unterkunft - Bernhard Müller".

Seit etwa drei Wochen lebt Müller in einem Männerwohnheim in Sendling. Sein Zimmer hat ein eigenes Bad, keinen Balkon. Wenn er aus dem Fenster schaut, sieht er keine Bäume, sondern eine große Straße. "Die Pensionen in Italien vor 30 Jahren sahen auch so aus", tröstet er sich. Es klingt, als würde er sich darüber freuen. Maximal eineinhalb Jahre darf er in dem Männerwohnheim bleiben. Er will sich einen kleinen Teppich besorgen und ein Bücherregal.

Seit kurzem beantwortet er ein paar Mal die Woche am Empfang das Telefon, etwas mehr als einen Euro bekommt er dafür in der Stunde. Jeden Mittwoch kocht er für sich und sieben andere Männer auf seinem Flur das Mittagessen, einmal macht er Hackbraten, einmal Nudelsalat. Es gibt einen Sozialpädagogen und ein Nachmittagsprogramm: Schwimmbad, Zeitungsschau, Gesprächsrunde. Alkohol trinke er nicht, obwohl es in dem Haus nicht verboten sei, sagt Müller. Einschlafen könne er nun auch so.

Als das Interview zu Ende ist und der Kaffee in seiner Tasse kalt, sagt Müller: "Das hört sich alles ganz dramatisch an. Ist es auch. Irgendwie. Aber ich habe jetzt ein gutes Gefühl." Zum Abschied fährt er die drei Stockwerke im Aufzug mit hinunter. "Machen Sie's gut", sagt er. Es ist fast 18 Uhr und immer noch an die 30 Grad heiß. Müller will duschen. Seine Seife riecht nach Buttermilch-Zitrone.

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Quelle:
SZ vom 13.07.2019
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