Süddeutsche Zeitung

Kreis und quer:Das Gift des Hasses wirkt schleichend

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Wenn Neonazis Corona-Proteste entern, müssen die Alarmglocken schrillen. Das lehren zwei Gedenktage in dieser Woche.

Von Bernhard Lohr, Haar

Als die 15 Männer in einem herrschaftlichen Anwesen am Wannsee den industriellen Judenmord besprechen und final planen, sind sie schnell mit der Agenda durch. 90 Minuten dauert die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942. Es geht geschäftsmäßig zu. Die führenden Figuren des NS-Terrorstaats und die anwesenden hohen Beamten sind sich schnell einig. Längst ist das Feld ideologisch zur kaltblütig technischen Umsetzung des Mordens bereitet. In diesen Kontext gehört, dass bereits zwei Jahre davor, am 18. Januar 1940, mit einem Transport von Patienten aus Haar nach Grafeneck die zentral organisierte Ermordung von psychisch Kranken in der berüchtigten "T4-Aktion" begonnen hatte.

Es war der erste Transport von Menschen in Gaskammern. Viele weitere folgten im sogenannten Euthanasie-Programm. Am 20. September 1940 wurden von der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing 191 jüdische Kinder, Jugendliche, Frauen und Männern in die Tötungsanstalt nach Hartheim bei Linz gebracht. Dies gilt Historikern als der erste systematische Massenmord an Juden vor Beginn der Deportationen in die Ghettos und Vernichtungslager.

Es ist wichtig, an solch bedrückende Ereignisse zu erinnern, wie in dieser Woche zwei Mal geschehen. Die große Aufgabe dabei ist, zu versuchen auch zu verstehen, was damals passiert ist. Doch das ist leicht gesagt. Wie soll man das Unfassbare begreifen? Wie kann jemand ungerührt einen Massenmord planen? Und wie können Ärzte und Pflegekräfte ihnen anvertraute Patienten zu einem Bus geleiten, der sie in den Tod bringt?

Wie die NS-Verbrecher am Wannsee den größten Massenmord der Geschichte besprachen, ist einigermaßen gut dokumentiert. Eine ausgezeichnete TV-Dokumentation (Montag, 24. Januar, ZDF) zeigt die Täter in monströser Geschäftsmäßigkeit. Weitgehend im Dunkeln liegt, wie damals in den Heil- und Pflegeanstalten ein entmenschlichtes System funktionieren konnte. Der Haarer Anstaltsleiter Hermann Pfannmüller war durch und durch Nationalsozialist und kalter Erfüllungsgehilfe der NS-Euthanasie. Manche Ärzte und Pflegekräften werden mit sich gerungen haben, doch vielen muss irgendwann die menschliche Fähigkeit zum Mitfühlen verloren gegangen sein, die Liebe zum Nächsten.

Im NS-Staat gehörte die Spaltung und Ausgrenzung zum Alltag. Vielen wurde das Menschsein abgesprochen, psychisch Kranke wurden als wertlose Existenzen beschrieben. Menschenverachtung hatte Konjunktur. Hier gilt es wachsam zu sein angesichts all der Hassprediger von heute. Das Gift der Worte wirkt schleichend. Und wenn eine Neonazi-Partei, die gegen alles Fremde agitiert und gegen ein angeblich zwingend abzuschaffendes "System" Stimmung macht, in Unterhaching und Unterschleißheim Proteste gegen die Corona-Maßnahmen zu vereinnahmen versucht, müssen Alarmglocken schrillen. Das System fußt auf dem Grundgesetz, das im Angesicht der NS-Schrecken formuliert wurde. Dessen erster Artikel lautet: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

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