Süddeutsche Zeitung

Euthanasie-Morde:Die Zeit des Totschweigens ist vorbei

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Der Bezirk Oberbayern und das Isar-Amper-Klinikum Haar suchen nach dem richtigen Umgang mit den Morden an Psychiatrie-Patienten während der NS-Zeit. Eine Podiumsdiskussion zeigt: Es gibt noch viel zu tun.

Von Bernhard Lohr, Haar

Als Andreas Bohl Anfang der Siebzigerjahre als Zivildienstleistender an das damalige Bezirkskrankenhaus in Haar-Eglfing kommt, will niemand über die Morde an Patienten in der Zeit des Nationalsozialismus sprechen. Genauso geht es Klaus Rückert, der in den Achtzigerjahren als evangelischer Klinikpfarrer nachbohrt. Diese Zeiten sind vorbei: Doch auch wenn sich der Bezirk Oberbayern und das Isar-Amper-Klinikum heute der Vergangenheit stellen, ist längst nicht klar, wie das am besten zu geschehen hat. Der Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Jörg Skriebeleit, warnte am Sonntag auf einer Podiumsdiskussion in Haar vor einem statischen Verständnis von Erinnerungskultur.

Dass die Vergangenheit nicht einfach in Museen verräumt oder gar entsorgt werden kann, zählt zu den Grundüberzeugungen von Norbert Göttler, der als Bezirksheimatpfleger in seiner Diskussionsreihe "Salon Zukunft Heimat" regelmäßig strittige, aktuelle Themen aufgreift. "Vergeben und vergessen?", hieß es diesmal im Kleinen Theater in Haar. Und auch wenn niemand die Rechtspopulisten von der AfD namentlich ansprach, so ging es doch auch um die Frage, wie einer Geschichtsvergessenheit, ja einer Verrohung der Gesellschaft entgegengewirkt werden kann. Andreas Bohl, der ehemals als Zivi beim Thema "Euthanasie" auf taube Ohren stieß, fragte nach: "Was müssen wir tun, damit der Kompass in Bezug auf Empathie und Mitmenschlichkeit richtig gestellt bleibt?"

Die Sorgen sind groß und zuletzt sogar gewachsen, obwohl es Gedenkstätten gibt. In Haar wurde 1990 ein Mahnmal zur Erinnerung an die Morde an Patienten neben der evangelischen Kirche im Klinikum geschaffen. Gedenkveranstaltungen finden regelmäßig statt, ein Gedenkbuch für die Münchner "Euthanasie-Opfer" wurde veröffentlicht.

Trotzdem warnte Bezirkstagspräsident Josef Mederer (CSU) auf dem Podium: "Es ist höchste Zeit." Es müsse noch mehr geschehen, um die Lehren aus der Vergangenheit für die Zukunft wirksam zu machen. An die Adresse der Rechtspopulisten, die im Übrigen auch in den Bezirkstag eingezogen sind, sagte er, dass er Ausgrenzung oder Stigmatisierung nicht tolerieren werde. Dazu werde er klare Worte finden. Grünen-Bezirksrätin Martina Neubauer sagte, man werde "sehr aufmerksam sein müssen". Wichtig sei: Haltung bewahren.

Das gilt freilich auch, wenn es um das Gedenken und Erinnern an einem Ort wie dem Isar-Amper-Klinikum in Haar geht. Der Ärztliche Direktor am Klinikum, Peter Brieger, strich genau dies heraus. Doch er bekannte auch, dass es schwierig sei, "in einer Zeit, die immer komplexer wird", den Erfordernissen einer Großklinik mit mehr als 60 000 Patienten im Jahr gerecht zu werden und zugleich die notwendige Erinnerungsarbeit zu leisten. Er brachte die Sorge zum Ausdruck, Patienten und Angehörige könnten durch zu viele Hinweise auf die Vergangenheit verunsichert werden. Zugleich aber bekannte er sich dazu, eben all diese zigtausenden Menschen, die nach Haar kommen, damit zu konfrontieren. Es könnte eine Chance sein, "etwas zu transportieren. Das wäre gut."

Damit bezog sich Brieger auf den neben ihm auf dem Podium sitzenden Skriebeleit, der dafür plädiert hatte, den Begriff von der Erinnerungskultur dynamisch zu fassen und im Plural. Vor 30 oder zehn Jahren habe man unter Erinnerung anderes verstanden als heute, und jeder Mensch habe seine eigene Herangehensweise. Skriebeleit warb dafür, Kommunikationsräume zu schaffen und Ankerpunkte - wie zum Beispiel spezielle Veranstaltungen - zu setzen, um Menschen zu erreichen. Als Beispiel führte er seine Gedenkstättenarbeit in Flossenbürg an.

Ähnlich wie in Haar wurde das Gelände des KZ-Flossenbürg, in dem mitsamt Außenlagern 30 000 Menschen umgebracht wurden, nach dem Krieg genutzt. Menschen lebten dort in Wohnanlagen und arbeiteten in Fabriken. Erst vor 20 Jahren, sagte Skriebeleit, habe er das Areal "neu definiert". Es sei heute ein Gedenkort und vor allem auch ein Bildungszentrum entstanden, mit Ausstellungen, die auch die Nachnutzung des KZ-Areals nach dem Krieg thematisierten. Als zentraler Ort hat sich Skriebeleit zufolge das Museumscafé entwickelt. Man wolle mit Menschen in Kontakt kommen. Auf Interesse stieß bei den etwa 140 Gästen im Kleinen Theater ein Workshop-Projekt, bei dem Skriebeleit mit Mitgliedern von Ultra-Fangruppen von Fußballclubs zum Thema Fremdenfeindlichkeit arbeitete.

Wie nicht aufgearbeitete Schrecken der Vergangenheit bis heute wirken, erläuterte der Psychotherapeut und Autor Jürgen Müller-Hohagen. Er selbst stieß erst in den Achtzigerjahren als junger Therapeut bei einer Veranstaltung in der KZ-Gedenkstätte Dachau darauf. Seitdem lässt ihn das Thema nicht los.

Nach dem Krieg wurde weitergemacht, als wäre nichts gewesen

Er kreidete seiner Zunft an, nach dem Krieg einfach weitergemacht zu haben, als wäre nichts gewesen. Personell habe es Kontinuität gegeben. Psychologen und -therapeuten hätten lange ausgeblendet, wie NS-Gräuel, begangen von Familienvätern, Generationen prägten. Sexuelle Gewalt und Gewaltbereitschaft, das komme ja irgendwoher. "Das ist ein weitgehend weißer Fleck in der Gesellschaft", sagte Müller-Hohagen. Skriebeleit pflichtete bei und sagte, dass in den vergangenen Jahren vermehrt Enkel und Urenkel zu ihm in die Gedenkstätte kämen, um Traumata aufzuarbeiten. Viele suchten Entlastung: Der Opa sei doch ein Guter gewesen.

Dass für viele erst jetzt, mehr als 70 Jahre nach dem Ende des NS-Terrorregimes, Gedenken möglich wird, trifft gerade auch auf Angehörige und Nachkommen von Opfern des sogenannten Euthanasie-Programms zu. Kürzlich kamen mehr als 60 Interessierte zu einer Führung zu den Tatorten am Gelände des heutigen Isar-Amper-Klinikums. An die Tatorte erinnert derzeit wenig. In einem ehemaligen Hungerhaus, in dem Menschen mit nährstoffarmer Kost zu Tode gehungert wurden, befindet sich heute die Krankenpflegeschule. In dem einstigen Kinderhaus, in dem Kinder zu Tode kamen, brachte die Gemeinde einen Kindergarten unter. Ein Teil des ehemaligen Klinikareals wurde verkauft. Dort entstehen in Räumen, in denen Menschen ermordet wurden, demnächst Wohnungen.

Dabei soll es aber nicht bleiben. Das bestehende Psychiatrie-Museum soll Bezirkstagspräsident Mederer zufolge weiterentwickelt werden. Ein Denkmal werde im künftigen Wohngebiet an die "schrecklichen" Taten erinnern, die dort geschehen seien, sagte er und bekannte, im Bezirk Oberbayern auf allen Ebenen die Erinnerung an die NS-Gräuel wirksam werden zu lassen. Der existierende Arbeitskreis zur Aufarbeitung der NS-Zeit soll durch Beteiligung des Bezirkstags politisch aufgewertet werden. Ein Leitbild für den Bezirk werde entwickelt. Pfarrer Klaus Rückert, der über Jahrzehnte für einen offenen Umgang mit den Patientenmorden kämpfte, forderte, den Platz vor dem Kleinen Theater als deutlich sichtbares Zeichen zum Platz für die Opfer des sogenannten Euthanasie-Programms zu erklären.

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Quelle:
SZ vom 05.11.2018
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