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Kreativquartiere in Bayern:Wie das Augsburger Gaswerk zum angesagten Kunstraum wurde

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Die Kultur hat das Industriedenkmal in der schwäbischen Großstadt erobert. Wie früher wird dort nun wieder Energie erzeugt - nur anders.

Von Susanne Hermanski, Augsburg

Um von vornherein sämtliche anderen Begehrlichkeiten in Zeiten der Energieknappheit auszuräumen: Das Augsburger Gaswerk wäre zwar im Handumdrehen wieder funktionstüchtig - doch brächte das nicht viel. Seine Kapazität hat die Stadt noch in der Nachkriegszeit über Wochen bestens versorgt und das dort aus Steinkohle erzeugte Gas per Fernleitungen sogar bis nach Kaufbeuren abgegeben. "Aber heute würde es nur noch für den Augsburger Energiebedarf von zwei Tagen genügen", erklärt Nihat Anac. Er ist der Geschäftsbereichsleiter "Kreativwerk" der Stadtwerke Augsburg (SWA), und die Energie, um die es ihm hier geht, ist ganz und gar anderer Natur.

Anac ist dafür zuständig, aus dem 70 000 Quadratmeter großen Gelände mit den historischen Industriekathedralen etwas Neues, für die Gesellschaft nicht weniger Wichtiges zu formen: einen Ort für die schöpferische Kraft der Stadt. Seit Ende 2015 entwickeln die SWA und die Stadt Augsburg das Areal zu einem "Zentrum für Kultur und Kreativwirtschaft". Vergleichbare Quartiere entstehen seit einigen Jahren in vielen bayerischen Städten. Auch in München, wo lange Jürgen Enninger für das "Kompetenzteam Kultur- und Kreativwirtschaft" zuständig war, bevor er nach Augsburg als Kulturreferent wechselte. Gemeinsam mit Anac setzt er sich nun dafür ein, die Transformation der alten Fabriken ebenso zügig wie qualitätvoll zu schaffen.

Die neue SZ-Kultur-Serie "Platz da!" stellt insgesamt ein Dutzend dieser Kreativquartiere vor. Dabei ist jedes in seinem Konzept anders, doch eines ist immer gleich. Menschliche "Motoren" wie Anac und Enninger sind die Basis für das Gelingen. Das Augsburger Gaswerk macht nicht nur deshalb den Anfang der Serie, weil der flüchtige Stoff, der dort einst zuhause war, gerade allseits im Fokus steht - das Gaswerk hat vor wenigen Wochen den "Staatspreis für Kreativorte" erhalten. Der wurde zum ersten Mal vom Bayerischen Wirtschaftsministerium vergeben und dies gleich in mehreren Kategorien.

Das Gaswerk Augsburg erhielt den "Sonderpreis für kommunales Engagement". Das Ministerium hatte den Wettbewerb breit angesetzt: "Hochprofessionelle Unternehmerinnen und Unternehmer, die mit ihrem Kreativort ihren Lebensunterhalt bestreiten", sollten ebenso zu Zuge kommen können, wie "Vereine, die mit viel ehrenamtlichem Engagement zum Beispiel ein kuratiertes Programm auf die Beine stellen und das kulturelle Angebot vor Ort ausweiten".

Die Kreativquartiere stehen Pars pro toto für den massiven Wandel, dem Bayerns Stadt- und Landgesellschaft allgemein gerade unterliegt. Dort, wo vor der Jahrtausendwende noch Industrie - oder Produktionsstätten angesiedelt waren, stehen heute nicht selten nur noch deren architektonische Relikte. Oft bewahrt der Denkmalschutz vor der Planierraupe. Gleichzeitig mangelt es vielen dieser Städte an Raum, vor allem an bezahlbarem für ihre Künstler, Veranstalter und Kreativen. Doch wer gehört zu diesen Kreativen? Das ist die Preisfrage, die sich jede Stadt und Gemeinde selbst beantworten muss. Start-ups aus der schönen neuen digitalen Welt sind es allemal. Gibt es doch kaum eine Kommune, die nicht davon träumt, dass sich unter ihnen eine Art Sechser im Lotto findet, der dereinst für sprudelnde Gewerbesteuer-Einnahmen sorgt.

Das erste Erdgas kam 1962 nach Augsburg

Gegründet wurde das Augsburger Gaswerk in seiner Ursprungsform 1915. Aus Steinkohle wurde dort Stadtgas gewonnen. Das erste Erdgas kam dann 1962 nach Augsburg. Die Umstellung des gesamten Netzes dauerte bis 1978, von da an wurde das Gaswerk nur noch für dessen Verteilung und Speicherung verwendet.

Im Jahr 2001 wurde dann das gesamte Gaswerk abgeschaltet. Fast 20 Jahre lang stand die Zeit auf dem Gelände im Augsburger Westen still . Die Anlagen gelten als Industriedenkmal von europäischem Rang. Auf einer eigenen Homepage werden die Details liebevoll und ausführlich vorgestellt. Die historischen Gebäude bringen vieles mit: Größe, Schönheit, Charme. Nur hie und da schlummert in oder unter ihnen auch noch ein wenig Chemie und anderer Unrat, der etwa zur Folge hatte, dass eines von ihnen ganz abgerissen werden musste. An dessen Stelle entstand jüngst die "Musikbox". Ein schlichter schwarzer Bau, der im Kontrast steht zu den faszinierenden Altbauten.

Der stille Wächter über alledem ist der Scheibengasbehälter, auch Gaskessel genannt. 85 Meter hoch ist die Stahlkonstruktion, die MAN 1915 als erste ihrer Art errichtet hat. Betritt man das perfekte Rund, stockt einem der Atmen. Durchs Dach fällt Licht in den von zierlichen Streben gehaltenen Hohlkörper, von der Mitte herab hängt ein Foucaultsches Pendel, das wunderbare Relikt einer Kunstaktion. Nihat Anac fordert Besucher gern auf, ein Metallteil aufzuheben, das auf dem Boden liegt. "Und jetzt mit Schwung wieder fallen lassen", ruft er. Der Knall setzt sich in überwältigender Akustik im Raum fort, man ahnt das Potenzial dieser heiligen Halle.

Was in den anderen Bauten steckt, wird zum Teil bereits ausgeschöpft. Aufs Köstlichste im Ofenhaus. Dort ist 2019 nicht nur die Brechtbühne des Staatstheaters Augsburg eingezogen, das gerade saniert werden muss. Dort gibt es auch ein Restaurant mit Bar, und viel gelobter, saisonaler Crossover-Küche. Als Ort für kleinere Events wie Geburtstag oder Hochzeiten ist es viel gebucht.

Die großen Events dagegen, wie das Modularfestival des Stadtjugendrings an Pfingsten, finden auf dem gesamten Areal verteilt statt. Mehr als 27 000 junge Menschen feierten und tanzten da zwischen den Gaskesseln. Bands wie Bilderbuch, Giant Rooks oder Leoniden begeisterten sie auf drei Bühnen. Im Betonsockelbau des Hauptkessels war zudem kurzerhand eine Rollschuh-Disko eingezogen. Der leicht geneigte, plane Boden lässt das locker zu.

Einen anderen faszinierenden Raum für Veranstaltungen mit mehreren hundert Menschen bietet das Apparatehaus. In dessen langgestreckter Halle stehen locker verteilt noch alle Originalmaschinen, die dort zum Einsatz kamen. Durch die riesigen Fenster fällt viel Licht, im Moment hat dort ein Informationsstand für Nachhaltigkeit seinen festen Platz. Von der "Elektrozentrale" aus wurde früher die gesamte elektrische Energie für das Gaswerk verteilt. Heute befindet sich in den Räumlichkeiten das Gaswerksmuseum. Im "Kühlergebäude" wurde einst das vom Ofenhaus kommende heiße Rohgas mit Luft und Wasser heruntergekühlt und von dort aus in das Apparatehaus weitergeleitet. Nach einer aufwendigen Dachsanierung kann das Kühlergebäude ebenfalls für verschiedenste Veranstaltungen gemietet werden.

Insgesamt haben bereits mehr als 80 Kulturschaffende auf dem Gaswerksareal Platz gefunden sowie eine Reihe von Start-ups und Unternehmen der Kulturwirtschaft, dazu zählen prinzipiell alle vom Agenten bis zum Caterer. Seit Juni ist die Musikbox fertiggestellt. In ihr befinden sich nicht nur 52 Musikräume, die speziell für diesen Zweck optimiert wurden. Zum größten Innenhof des Gaswerks hin hat das Gebäude an der Fassade einen großen Einschnitt, eine Art Pergola. Technisch ist er so ausgefuchst, dass von dort herab bei Ansprachen, Standkonzerten oder mit DJ-Sets der gesamte Platz davor beschallt werden kann. Eigentlich fast ohne Technik.

"Die Musikbox eingeschlossen, haben die SWA und die Stadt Augsburg seit 2019 insgesamt 113 Räume für die Kulturproduktion auf rund 4500 Quadratmetern Nutzfläche in vier Gebäuden auf dem Gaswerkgelände geschaffen", zieht Jürgen Enninger stolz Bilanz. Und in den nächsten Jahren gibt es auf dem Gelände noch jede Menge weitere Ressourcen. Damit die sicher gehoben werden, hat Nihat Anac sein Büro schon mal ebenfalls dort - in der ehemaligen Dienstwohnung des Direktors des Gaswerks. Dort sitzen auch die anderen Mitglieder seines Teams. Das beschert allen, die auf dem Areal etwas brauchen, kurze Wege. Und die sind einer der magischen Schlüssel für jeden wahrhaft kreativen Ort.

1. Kulturtag am Alten Gaswerk Augsburg, So., 11. Sep., 15-22 Uhr, Programm und Infos unter www.zukunftsnetzwerk-nachhalltig.de

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