Süddeutsche Zeitung

Musik aus München:Mit dem Mofa durch Marrakesch

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Die Münchner Formation "Jisr" ergründet auf ihrem zweiten Album den musikalischen Reichtum Marokkos.

Von Christian Jooß-Bernau, München

Marwan Fakirs Violine ruft und lauscht dem Hall ihrer Töne nach, gleitet mit dem feinen Gespür für elegante Bewegungen in die Mikrotöne, die die westliche Popmusik nur in Ansätzen mit den Blue Notes des Blues kennt. Zwei Minuten dauert es, dann nimmt die erste Nummer "L'ar ya l'ar" zum Rhythmus des Tamburins Fahrt auf, wird zum Tanz, zur Call-and-response-Nummer, angeführt von Mohcine Ramdans Stimme. Aus europäischer Sicht ist dieses Stück im Chaabi-Stil das, was man sich unter arabischer Musik landläufig vorstellt.

"Heritage / Irth" haben Jisr , die in München zusammengefunden haben, ihr zweites Album genannt. Aufgenommen haben sie es während der Zeit des Lockdowns im Studio 2 des Bayerischen Rundfunks. 2016 hat Ramdan mit zwei geflüchteten Syrern Jisr gegründet. Er selber ist Marokkaner, hat in Rabat Deutsch studiert und das dann in München fortgesetzt. Mittlerweile hat er promoviert, gerade seine Dissertation veröffentlicht und nebenbei seine Gruppe zu einem verblüffend wandlungsfähigen Organismus gemacht, der die kulturellen Hintergründe seiner Mitglieder immer neu sortiert. Auf dem Cover sieht man ihn auf einem Mofa sitzen - vor der Kulisse des Djemaa el-Fna, dem zentralen Platz Marrakeschs, auf dem nächtens das Leben pulsiert und man auch tagsüber gerne von Schlangenbeschwörern verfolgt wird. Was Mohcine Ramdan da auf dem Rücken baumelt, ist eine Gimbri, eine Basslaute und Ritualinstrument der Gnawa.

Noch einmal ist hier der im Juni verstorbene Roman Bunka zu hören

Mohcine Ramdan könnte natürlich jederzeit sein Moped starten und losfahren. In die eine Richtung verschwände er nach wenigen Metern in den Gassen des Souks, in denen sich jeder Tourist mindestens einmal verläuft, überfordert von der Verdichtung des Lebens zur kritischen Masse. In die andere Richtung wäre er ruckzuck auf dem Weg ins Atlasgebirge, vorbei an Berberdörfern.

Der zweite Song fährt einem mit hell trillernder Frauenstimme in die Knochen. Zaghrouta nennt sich die Gesangstechnik im arabischen Raum, Ululation heißt sie bei uns. Jodler würden staunen. Es geht in die Wüste mit "Hasna w ya Layla" und einem rhythmisch-melodiösen Schaukeln, das dem Feeling des Delta Blues tatsächlich nicht unähnlich ist. Roman Bunka, den man auf dem Album sonst an der Oud hört, hat hier einen seiner letzten Auftritte an der Gitarre. Am 12. Juni starb der große Musikversteher, der schon Embryo auf ihrer großen Reise begleitet hat.

Dieses Jisr-Album, das sich ganz dem musikalischen Reichtum Marokkos hingibt, ist kein Museum. Auch wenn es mit dem Gimbri-Intro von "Soudani Manayou" tief hineingeht in die hypnotische Ritualmusik der Gnawa, auch wenn Bunkas Oud so eine unglaublich perfekt schillernde Schönheit in sich trägt, auch wenn Perkussionist Rhani Krija in "Hobek Leqmar" einen typischen metallischen Sound aus den Fingern schüttelt.

Jisr stellen dies alles nicht aus, sie schöpfen es aus sich heraus. "Longa Nekriz" ist ihre Version der klassisch arabischen Musik. Und ohne Zweifel akzeptiert man, dass hier das Vibraphon den Raum öffnet, ein Instrument mit erst hundertjähriger Geschichte. Gespielt von Marja Burchard, Chefin von Embryo und seit ihrer Kindheit musiksozialisiert mit außereuropäischen Kängen. Dass Vlad Cojacaru mit dem Akkordeon den Harmonieraum ausmalt, ist da nur die organische Fortschreibung, genauso wie Gergely Lukács Trompete und sein Flügelhorn.

Dass in "Hobek Leqmar" Ramdans Stimme plötzlich melismatisch in Richtung Flamenco zu flattern scheint, ist kein Zufall. Die Verbindungen zu Andalusien sind nicht nur musikalisch eng. Aus Spanien vertrieben brachten sephardische Juden ihre Kultur auch nach Marokko - und auch ohne Mofa wäre Ramdan schnell im jüdischen Viertel Marrakeschs.

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