Süddeutsche Zeitung

Münchner Vögel:Tirili!

Lesezeit: 2 min

Der Gesang der Amsel hilft frühmorgens auf dem Heimweg von herrlich ranzigen Studentenbuden genauso wie gegen Albträume vom Mathe-Abitur. Doch die Stadtvögel werden weniger.

Kolumne von Wolfgang Görl

An sich ist es erstrebenswert, die Morgendämmerung zu versäumen - aber was soll man machen, wenn einen der Albtraum weckt, in dem man gerade das Mathe-Abitur wiederholen musste? An Schlaf ist dann nicht mehr zu denken, da hilft nur die Flucht auf den Balkon, in die Frische des Morgens, um tief durchzuatmen. Noch ist wenig zu sehen im Dämmerlicht, aber das macht nichts. Was der junge Apriltag zu bieten hat, ist auch ohne Illumination spektakulär genug.

Horch, da singt eine Amsel, horch, sie singt, als möchte sie die ganze Stadt wecken, als wollte sie rufen: Raus aus den Federn, es ist Frühling, und der Tag wird groß! Und schon sind alle Albträume verflogen, auch das Mathe-Abitur - lang, lang ist' her - hat seinen Schrecken verloren. Da ist nur noch der Gesang der Amsel, das große Tirili, das dem verschlafenen Hörer vorkommt, als wäre es das Lied seines Lebens.

Wie oft hat man es gehört? Früher, auf dem Heimweg von herrlich ranzigen Studentenbuden, wo die ganze Nacht Pink-Floyd- und Leonard-Cohen-Platten liefen, und wo die einen mit der Freundin turtelnd in der Ecke lagen, während der unglückliche Rest die Revolution plante oder sich darauf konzentrierte, die richtige Wahl zwischen Joints und Lambrusco-Flaschen zu treffen.

Auf der Straße dann machte sich Ernüchterung breit, der Blues der blauen Stunde, den man vergeblich mit ein paar Strophen aus Cohens "Tonight will be fine" zu vertreiben versuchte. Das gelang erst der Amsel, dem schwarzen Freund in der Baumkrone. Da war das Tirili, und es war das Morgenlied der erwachenden Stadt, das einen begleitete als vielstimmiger Chor bis zur Haustür.

Viele Jahre später, in Santa Rosa, Kalifornien, lief uns ein Auswandererpaar aus München über den Weg, das in einem tollen Haus im Grünen lebte, mit einem Garten, auf dessen Bäumen allerlei amerikanische Vögel zwitscherten. Gut ging es den Exilbayern an der Westküste, so gut, dass selten Heimweh aufkam. Nur eines vermissten sie sehnlichst: den Gesang der Münchner Vögel. Den Heimatsound.

Es kann gut sein, dass eines Tages auch die Münchner das Tirili vermissen werden. Den Stadtvögeln, so war neulich zu lesen, geht es miserabel. Ihr Lebensraum wird verbaut, es gibt immer weniger. Selbst die Amseln machen sich rar. Was aber wird aus uns, wenn sie ganz verschwunden sind? Wer wird dann unsere Albträume vertreiben? Wird es genügen, mit dem Smartphone auf dem Balkon zu stehen und eine Vogelstimmen-App abzuspielen?

Das will man uns ja immer einreden: Es gibt für alles eine technische Lösung, auch für den stummen Frühling. Horch, wird es heißen, horch dem Gesang der virtuellen Amsel! Blödes Geschwätz. Sie wird nie so sein wie der alte schwarze Freund in der Baumkrone.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3456126
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 08.04.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.