Süddeutsche Zeitung

Corona-Krise im Landkreis Freising:Zunehmend unübersichtlich

Lesezeit: 3 min

Mit jetzt 616 gemeldeten Infizierten liegt der Landkreis Freising in Bayern an fünfter Stelle. Wie konnte es dazu kommen und wie reagieren Gesundheitsamt und Klinikum darauf? Eine Spurensuche.

Von Thilo Schröder, Freising

Die Ausbreitung des Coronavirus im Landkreis Freising verläuft zunehmend unübersichtlich. Klar ist: Mit laut Landratsamt 616 gemeldeten Infizierten (Stand: Freitagnachmittag) zählt der Landkreis die fünftmeisten Erkrankten im Freistaat. Auch die Anstiegskurve liegt deutlich über dem Landesschnitt, obgleich bei 228 Genesenen eine Verlangsamung absehbar scheint. Mehr Todesfälle als die bislang elf vom Landratsamt bestätigten gibt es nur in drei anderen Landkreisen. Wie kommt es, dass Freising ein Corona-Hotspot ist? Und wie reagieren Gesundheitsamt und Klinikum darauf?

Wer Antworten sucht, muss ein paar Wochen zurückgehen: als im Februar bundesweit Faschings- und Karnevalsumzüge die Straßen füllten, als Menschen dicht gedrängt die fünfte Jahreszeit betanzten. An eine Ansteckung mit einem sich zunehmend global ausbreitenden Virus dachten da viele noch nicht, Versammlungsverbote seitens der Politik kamen erst später. Ein faschingsfreudiger Mann aus Au, so schildert es BRK-Kreisgeschäftsführer Albert Söhl heute, sollte in jenen Tagen zur tragischen Figur der Epidemie im Landkreis Freising werden.

"Der erste Patient, ein junger Mann aus Au, war beim Fasching im Ruhrpott", erzählt Söhl - tatsächlich war der Betreffende wohl in Köln und hat sich da mit seinem Bruder aus Heinsberg getroffen. "Der hat sich da angesteckt und hier weitere angesteckt", so Söhl weiter. Zurück in Au habe er weitere Faschingsbälle in der Hallertau besucht. "Das hat sich dann potenziert", sagt Söhl. "Man kann das ziemlich genau zurückverfolgen." Gesellige Veranstaltungen und ein Infizierter, der in kurzer Zeit einige davon besucht hat: "Das ist der Grund, warum es in Freising so früh und so schnell losgegangen ist", schlussfolgert Söhl. Vorwürfe könne man dem Mann nicht machen, betont er. Andere hätten genauso Verbreiter des Virus sein können.

Wochen später wird das Ausmaß der Zahl der Infektionen deutlich, die neben Bayern und Baden-Württemberg auch in Nordrhein-Westfalen sehr hoch sind. Im Altenheim in Au gibt es inzwischen mehrere Dutzend Infizierte, zum Teil liegen sie auf der Intensivstation im Klinikum.

Einen zweiten Ursprung sieht Söhl in Urlaubsrückkehrern aus Italien und Tirol. Das bestätigt das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL): "Die Covid-19-Fälle im Landkreis Freising gingen zunächst insbesondere von Reiserückkehrern aus Risikogebieten aus. Grundsätzlich gilt, dass bedingt durch Urlaubsrückkehrer nach den Faschingsferien ein deutlicher Anstieg der Fallzahlen in Bayern registriert wurde." Inzwischen geht die Zahl der Neuinfektionen im Landkreis zwar zurück, für Söhl aber kein Grund, aufzuatmen. Epidemien verlaufen in Wellen und bringen Hotspots hervor. So schilderte es der Würzburger Infektiologe Andrew Ullmann kürzlich in einer digitalen Diskussionsrunde zum Umgang mit dem Virus im Landkreis Freising. In der jetzt zweiten Phase der Pandemie sind die Infektionsketten nicht mehr nachvollziehbar. Wissenschaftler drängen darauf, mit entsprechenden Maßnahmen die Gesamtzahl der Infizierten so weit zu senken, dass eine Verfolgung der Ansteckungsverläufe wieder möglich ist.

In Freising sei das "noch lange nicht der Fall", sagt Söhl und kritisiert: "Es wird zu wenig getestet. Das Gesundheitsamt funktioniert da wie ein Flaschenhals: Es gibt Engpässe." Das Landratsamt hatte zunächst eine Corona-Teststelle in Zolling eingerichtet, inzwischen sind weitere Kapazitäten am Landkreisbauhof ausgebaut, das BRK führt dort vormittags Tests durch. Die Gemeinde Eching betreibt ebenfalls eine mobile Teststation. Das medizinisch geschulte Personal sei zunächst an seine Grenzen gelangt, sagt Landratsamtssprecher Robert Stangl. Man sei jedoch "bemüht, auch hier die Personalsituation zu verstärken". Aktuell werde versucht, Medizinstudenten über die Regierung von Oberbayern zu rekrutieren.

Kritik äußert der BRK-Kreischef auch an der Ausstattung des Freisinger Klinikums. Stand Freitag, 3. April, liegen dort 51 Patienten auf den Isolierstationen (Verdachtsfälle und bestätigte Fälle) plus zwölf weitere auf der Intensivstation, von denen derzeit elf beatmet werden. Erst am Montag hatte das Klinikum betont, über genügend Betten für Corona-Patienten zu verfügen. Mangeln könnte es, sollten die Fallzahlen steigen, indes an Beatmungsgeräten. Zwölf Geräte seien vorhanden, sagt Klinik-Sprecher Sascha Alexander. Am Freitag sollten drei weitere dazukommen, noch einmal fünf habe der Landkreis bestellt. Es brauche aber "mindestens zehn oder zwölf", fordert Söhl.

Manche Bürger äußern derweil Unverständnis ob langer Wartezeiten beim Gesundheitsamt. Sie und eine Kollegin hätten sich als direkte Kontaktpersonen eines Infizierten mit Symptomen am 23. März gemeldet, schreibt Karen H. der SZ. Bislang habe sie keine Rückmeldung vom Amt erhalten, bestätigte sie am Freitag. Stangl wirbt um Verständnis, "dass das Gesundheitsamt in dieser schwierigen Zeit über die Maßen mit der Erledigung der dringendsten Aufgaben ausgelastet ist". Die Ermittlung von Kontaktpersonen beginne nach einem positiven Testbefund. Und: Es werde nicht jede Kontaktperson getestet. Kriterien seien Symptome oder die Arbeit in einem systemkritischen Beruf. Alle 24 Mitarbeiter des Gesundheitsamtes, so Stangl, seien mit der Bewältigung der Krise beschäftigt. Hinzu kämen weitere 46 Mitarbeiter des Landratsamts, die am Bürgertelefon und bei der Kontaktpersonennachverfolgung helfen. Außerdem drei abgeordnete Lehrkräfte und zwei Ärzte auf Honorarbasis. Zuletzt rief das Amt auf, sich als Freiwillige zum Nähen von Mundschutzmasken zu melden. Stangl betont: Maßnahmen zur Unterstützung des Gesundheitsamts seien "frühzeitig" getroffen worden.

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SZ vom 04.04.2020
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