Süddeutsche Zeitung

Freiham:Visionen für die Stadt der Zukunft

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Häuser wie ein bewohntes Gebirge, Wege im Wasser und flexible Garagen: Max Schwitalla hat kühne Ideen. So könnte Stadt künftig aussehen.

Von Ellen Draxel, Freiham

An fliegende Autos glaubt Max Schwitalla nicht. "Die Vorstellung, dass wir den Individualverkehr über unsere Köpfe heben und der Himmel dadurch schwarz wird", sagt der Architekt, sei für ihn eine "unschöne" Vision. Wohl aber kann er sich für fliegende Busse begeistern, die auf sogenannten Mobility Hubs landen. Solche multifunktionalen, mehrstöckigen Gebäude, die als Quartierszentren mit Mobilitätsangeboten fungieren, aber auch Packstationen, Läden oder eine Kindertagesstätte mit Dachterrasse beherbergen können, sind für den Berliner "ganz wichtige Stadtbausteine für die Zukunft".

Schwitalla widmet sich seit neun Jahren in Design und Forschungsschwerpunkt zukünftiger urbaner Mobilität und Stadtentwicklung. Als Impulsgeber war er von der Münchner Volkshochschule zu den jüngsten "Aubinger Gesprächen" eingeladen, bei denen es um die Verkehrsbewältigung im Westen der Stadt ging, speziell um das Mobilitätskonzept für den neuen Stadtteil Freiham. Angesichts dessen, dass 2050 rund 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben werden und deshalb in den nächsten 30 Jahren urbane Zentren für drei Milliarden mehr Menschen auf dem Globus gebaut werden müssen - was so viel ist, wie 800 Mal Berlin neu zu errichten -, brauche es neue Konzepte, sagt der Architekt. Keine Autostädte, die jede Menge Abgas produzieren. Und auch keine Wolkenkratzer-"Aufzugsstädte", in denen Menschen "wie in einem Hühnerstall übereinandergestapelt werden" - ohne Chance, sich zu begegnen.

"Urbane Mobilität heißt, Menschen zusammenzubringen", betont Schwitalla. "Deshalb brauchen wir neben Produkt- vor allem Nutzungsinnovationen. Sharing-Angebote, die man kombinieren kann, und die dann eine System-Innovation entstehen lassen." Seine Vision: Stadt nicht mehr linear durch mit dem Auto zu befahrende Straßenzüge denken. Sondern Stadt eher als ein Netzwerk von Nachbarschaften begreifen. Mit lokalem Verkehr innerhalb der Nachbarschaft, der zu Fuß gelingen kann, aber auch mit modernen E-Bikes, Cargo-E-Bikes, Hoverboards oder elektronischen Einrädern, sogenannten One-Wheelern. Und mit Transferverkehr, der die Nachbarschaften verbindet. Mit U- und S-Bahnen, aber auch Express-Bussen oder Trams, die auf eigenen Spuren fahren und dadurch extrem leistungsfähig sind. Oder mit Alternativen wie Gondeln. "Wir müssen nicht von Haustür zu Haustür mit immer demselben Verkehrsträger", sagt Schwitalla. "Wir können von einem zum anderen Verkehrsmittel umsteigen. Die Schnittstelle ist das Mobility Hub." Seien Autos erst in den Hubs abgestellt, ließen sich Stadtstrukturen "viel kleinmaßstäblicher, menschenmaßstäblicher" realisieren. Statt durch Straßen könnte man dann im Sommer beispielsweise durchs Wasser gehen. Nachbarschaften könnten wie ein bewohntes Gebirge aussehen, das sich mit E-Bikes über Rampen bis ins hohe Alter erklimmen ließe: sehr viel grüner und abwechslungsreicher als der bislang klassische Städtebau.

In Berlin-Tegel haben Schwitalla und sein Team schon eine Siedlung mit sechs Mobility Hubs geplant, die als Quartiersgaragen mit studentischem Wohnen in den Obergeschossen starten. Und in Hamburg entsteht ein zweites Projekt: In einem Gebiet für 15 000 Bewohner sind elf Mobility Hubs vorgesehen.

"Architektur", sagt der Visionär, "sollte nicht nur fürs Auto gedacht werden". Garagen müssten künftig auch umgenutzt werden können, etwa für Büros. Entsprechend flexibel sollte die Planung ausfallen, indem Geschossdecken herausnehmbar konstruiert werden oder ganze Gebäudeteile zurückgebaut werden können.

Das Mobilitätskonzept für Freiham sieht für den zweiten Realisierungsabschnitt bereits solche "Mobilitätshäuser" als Münchner Pilotprojekt vor: multifunktionale Gebäude mit Platz für den ruhenden Verkehr, aber auch für Sharing-Angebote wie Leihfahrräder, E-Scooter oder Lastenräder. Oder für Paketstationen, soziale Treffpunkte, einen Supermarkt, einen Spielplatz auf dem Dach oder Gastronomie. "Bei der Nutzung sind der Fantasie da keine Grenzen gesetzt", sagt Elisabeth Nagl vom Mobilitätsreferat. Auch die langfristige Umnutzung der Parkhäuser in Wohngebäude oder anderes ist von städtischer Seite schon vorgedacht. Tiefgaragen sind in Freiham wegen des hohen Grundwasserspiegels schwierig, zudem würden sie den Untergrund versiegeln und Baumpflanzungen erschweren.

"Unser Ziel ist es, das Quartier zugunsten von mehr Aufenthaltsqualität vom Durchfahrtsverkehr freizuhalten", erklärt Nagl. Deshalb ist das Viertel bereits autoreduziert entworfen. Auch der Stellplatzschlüssel soll im zweiten Realisierungsabschnitt auf einen halben Stellplatz pro Wohneinheit reduziert werden, um möglichst wenig zu versiegeln. Eine Parkraumbewirtschaftung auf öffentlichen Flächen verhindert, dass Autos aus Bequemlichkeitsgründen draußen abgestellt werden. Entscheidend aber ist vor allem die Idee der "Stadt der kurzen Wege": Wer alles Wichtige vor der Haustür findet, muss erst gar nicht weg. "Dafür haben wir uns extra ein Erdgeschoss-Gutachten von einem externen Büro erstellen lassen", sagt Nagls Kollege Jonas Wurtz.

So kühn das Hub-Prinzip für manchen Kritiker klingen mag - "es funktioniert", weiß Steffen Knopp von der GWG. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft hat für ihre Mieter an der Ecke Bad-Schachener-/Echardinger Straße bereits voriges Jahr eine Mobilitätsstation installiert, samt Car- und Bike-Sharing, Einkaufs-Trolleys und E-Lastenleihrad. Es gibt eine Patin aus dem Haus, die immer mal wieder schaut, ob die Räder in Schuss sind. Und eine Servicestation, die für Reparaturen zuständig ist. "Die Nutzung erfolgt über einen Chip, ist für unsere Mieter kostenlos und wird rege in Anspruch genommen", erläutert Knopp. In Freiham baut die GWG mehr als tausend Wohnungen, Mobilitätsstationen soll es in allen fünf Baufeldern geben.

Das Problem, das die Lokalpolitiker und viele Nachbarn aus den angrenzenden Stadtteilen sehen, ist nur, dass Freiham keine Insel ist. "Schulen in Freiham werden schon jetzt von Kindern aus anderen Vierteln besucht, und wir haben eine hohe Zahl an Pendlern", gibt Aubings Bezirksausschuss-Chef Sebastian Kriesel (CSU) zu bedenken. Die Hubs sind für ihn deshalb "nicht der Weisheit letzter Schluss", vielmehr brauche es ein gutes Fahrradnetz, eine kleinteilige Erschließung mit Bussen und schnell die Verlängerung der U 5 bis Freiham. Stadtteilmanager Reinhold Petrich plädiert dennoch dafür, Neues einfach mal auszuprobieren. "In Kopenhagen haben sie für die Verkehrswende auch mindestens 20 Jahre gebraucht." München, findet er, sei diesbezüglich "auf einem guten Weg".

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Quelle:
SZ vom 08.07.2021
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