Süddeutsche Zeitung

Einkommen:Warum der Mindestlohn in München nicht hilft

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Viele Menschen in München arbeiten und müssen trotzdem mit Hartz IV aufstocken. Anette Farrenkopf, Geschäftsführerin des Jobcenters, erklärt, woran das liegt.

Interview von Sven Loerzer

Rund 41 000 Haushalte in München sind auf Grundsicherung für Arbeitssuchende angewiesen. Die meisten der etwa 53 800 betroffenen erwerbsfähigen Menschen sind arbeitslos. Hartz IV gibt es aber auch dann, wenn das Arbeitseinkommen nicht zum Lebensunterhalt reicht. Die Geschäftsführerin des Münchner Jobcenters, Anette Farrenkopf, nennt die Ursachen.

SZ: Viele denken, wer Hartz-IV-Leistungen bezieht, arbeitet nicht. Stimmt das?

Anette Farrenkopf: Nein. Rund 14 800 der erwerbsfähigen Leistungsbezieher arbeiten, das sind circa 27,5 Prozent der Leistungsbezieher. Ungefähr die Hälfte der Arbeitenden sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. In Vollzeit arbeiten 2890 Leistungsbezieher, in Teilzeit 4600. Die größte Gruppe unter den Arbeitenden sind die Minijobber, insgesamt sind es 5700. Und etwa 1400 sind selbständig.

Warum gibt es so viele Minijobber?

Zum einen bedeutet der Minijob für viele erst mal wieder den Einstieg in eine Erwerbstätigkeit. So lässt sich leichter der Zugang zum Arbeitsmarkt finden. Dann gibt es Menschen, die gesundheitliche Einschränkungen haben. Da sind wir froh, dass sie überhaupt in einem Minijob arbeiten können. Andererseits haben wir Frauen - vor allem Alleinerziehende - die aufgrund der eingeschränkten Arbeitszeit im Minijob arbeiten. Und natürlich gibt es auch ungelernte Kräfte, die darüber trotz eines geringen Berufsbildungsniveaus einen Einstieg finden.

Manche Minijobber machen die Erfahrung, dass ihre Firma lieber mehrere Leute auf dieser Basis beschäftigt, statt ihnen die Chance zu geben, mehr zu arbeiten.

In manchen Branchen sind Minijobs leider üblich, zum Beispiel für Reinigungskräfte, Zeitungsausträger, aber auch im Einzelhandel und in der Gastronomie. Wir versuchen natürlich, daraus keinen Dauerzustand werden zu lassen, sondern den Minijob als Brücke zu sehen. Wir arbeiten gemeinsam mit den Menschen daran, in eine Teilzeit- oder Vollzeitbeschäftigung zu kommen. Dazu bieten wir auch spezielle Kurse an, schauen, welche Qualifikationen dafür nötig wären und gehen auch auf die Arbeitgeber zu, ob sie bereit sind, die Stundenzahl zu erhöhen oder eine andere Tätigkeit anzubieten. Denn oft sind die Minijobs ja auch unter dem Qualifikationsniveau der Menschen.

Wie lässt sich verhindern, dass der Minijob nicht zur Sackgasse wird?

Mir ist Prävention sehr wichtig. In vielen Familien erscheint der 450-Euro-Job für die Frau als die Lösung. Zum einen sind Frauen oft allein für Haushalt und Kinder zuständig, zum anderen bietet der Minijob die beitragsfreie Mitversicherung in der Krankenkasse beim Partner. Doch nach der Scheidung kommt die Armut: Wir erleben immer wieder, dass Frauen in Hartz IV landen und aus Minijobs nicht mehr herauskommen, weil über die Jahre hinweg ein Qualifikationsverlust eingetreten ist.

Wie kann es sein, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, trotz Mindestlohn auf staatliche Unterstützung angewiesen sind?

Betroffen sind überwiegend größere Familien, Alleinerziehende und natürlich wieder ungelernte Arbeitskräfte. Dabei spielt natürlich das Mietniveau in München eine ganz große Rolle dafür, dass der Mindestlohn bei uns praktisch keinen Effekt erzielt. Hier müsste ein Single, der unabhängig von Hartz IV leben will, einen Stundenlohn von 11,50 Euro erhalten, da reicht ein Mindestlohn von 8,50 Euro nicht. Bei kinderreichen Familien liegt der Bedarf noch höher.

Wie stark sind Migranten betroffen?

51 Prozent unserer Leistungsbezieher sind Migranten. Das liegt daran, dass sehr viele von ihnen - rund 80 Prozent - über gar keine oder keine anerkannte Ausbildung verfügen. In den Herkunftsländern gibt es kein duales Ausbildungssystem. Oberstes Ziel ist deshalb für uns, Ausbildungsabschlüsse nachzuholen. Das lohnt sich auch noch für 25- bis 35-Jährige. Natürlich ist es eine Durststrecke, sich noch einmal in eine Ausbildung oder eine Umschulung zu begeben. Aber es lohnt sich auf jeden Fall. In München bräuchte man zwei Verdienste, um eine Familie gut aufzustellen. Wir wollen deshalb auch Migrantinnen nahebringen, Kinderbetreuung zu nutzen, und Sprachkurse und Ausbildung für sie anbieten, damit sie am Erwerbsleben teilhaben.

Was muss geschehen, damit Menschen nicht trotz Vollzeitarbeit auf Hartz IV angewiesen sind?

Da haben die politischen Appelle schon einiges genutzt: Zum 1. Januar 2016 wird das Wohngeld spürbar erhöht und der Empfängerkreis ausgeweitet. Das hilft besonders Menschen, die nur geringe Leistungen von uns bekommen, unabhängig von der Grundsicherung zu werden. In Kombination mit der Kindergeldzuschlag-Erhöhung von Juli 2016 an und der Erhöhung des Steuerfreibetrages für Alleinerziehende erhoffe ich mir, dass mehr Erwerbstätige unabhängig vom Jobcenter werden und wieder ein selbstbestimmtes Leben führen können.

Wie kann das Jobcenter helfen?

Unser ganzes Tun ist darauf ausgerichtet, dass Betroffene Schritt für Schritt unabhängig von staatlicher Hilfe zu werden. Das fängt mit Ausbildung und Qualifikation an. Wir coachen die Leute und haben eigene Projekte auch für Alleinerziehende und Mütter mit Kleinkindern. Oberstes Ziel bleibt der Weg in den Job.

Familien, die langfristig mit Hartz IV auskommen muss, haben es besonders schwer, weil auch das, was aus besseren Zeiten noch da war, ersetzt werden muss. Wie lässt sich ihre Situation erleichtern?

Familien mit Kindern haben Anspruch auf Leistungen für Bildung und Teilhabe. Sie werden aber nicht in dem Maß genutzt, wie wir es uns wünschen. Damit erfasst sind Kosten für Schulausflüge, Mittagessen, Sportverein oder auch Nachhilfe, um Kindern aus Hartz-IV-Haushalten genauso gute Chance zu geben, am Leben teilzuhaben. Durch die freiwilligen Leistungen der Stadt München können wir zusätzliche Unterstützung bieten, wie etwa Freizeitangebote und Energiesparberatung. Wenn es um dringende Anschaffungen geht, können wir durch Stiftungs- und Spendenmittel helfen. Die Grundsicherung ist nur als Überbrückung gedacht: Ziel muss sein, wieder auf die eigenen Füße zu kommen. Den Weg dahin gehen wir gemeinsam.

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Quelle:
SZ vom 19.12.2015
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