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Virtual-Reality-Projekt am Deutschen Herzzentrum:"Ich war schwer beeindruckt, wie lebensecht alles ist"

Lesezeit: 4 min

Wenn Patienten nicht mehr eigenständig atmen können, wird oft die sogenannte Ecmo eingesetzt. Nun wurde ein digitales Schulungsprogramm entwickelt, um den Umgang mit der Therapiemethode zu erleichtern. Ein Blick durch die Virtual-Reality-Brille.

Von Nicole Graner

Diese Brille hat keine Gläser. Und sieht eher aus wie eine wuchtige Taucherbrille - allerdings ohne Sichtfenster. Mit dieser Virtual-Reality-Brille (VR-Brille) blickt man nicht nach außen, sondern in virtuelle Räume. Wie zum Beispiel in das Zimmer sechs auf der Intensivstation der Klinik für angeborene Herzfehler und Kinderkardiologie des Deutschen Herzzentrums München (DHM).

Eins zu eins haben Software-Entwickler in engster Zusammenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegefachkräften des Herzzentrums der Technischen Universität den Raum für ein Schulungsprogramm zentimetergenau "modelliert". Mitten im Raum liegt auf dem Intensivbett ein digitaler Säugling. Neben vielen blinkenden Monitoren. An vielen Schläuchen. An der Extrakorporalen Membranoxygenierung, der Ecmo.

Ecmo - vier Buchstaben. Sie stehen für eine hochinvasive Therapiemethode, die vor allem seit Corona in den öffentlichen Fokus gerückt ist. Denn viele Patienten mit einer schweren Covid-19-Infektion - rund ein Viertel dieser Erkrankten- werden mit einer Ecmo behandelt. Sie wird aber auch bei anderen schweren Krankheitsverläufen eingesetzt. Wenn ein Patient nicht mehr eigenständig den Gasaustausch über das Herz-Lungen-System bewältigen kann. Wenn es das Herz nicht mehr schafft, den Kreislauf aufrechtzuerhalten.

Das Gerät funktioniert wie eine künstliche Lunge und übernimmt die Atemfunktionsleistung. Eine Zentrifugalpumpe kann, je nach Kanülierung, die Herzfunktion übernehmen. Zwei Kanülen werden in eine große Vene und/oder Arterie eingeführt. Die eine führe, wie Oberärztin Bettina Ruf erklärt, "sauerstoffarmes Blut" aus dem Körper heraus. Im sogenannten Oxygenator, also der künstlichen Lunge, werde es dann wieder mit Sauerstoff angereichert und "über die andere Kanüle zum Patienten zurückgeführt", sagt die 51-Jährige, die seit 17 Jahren am Herzzentrum arbeitet.

Der Blick durch die Brille schickt den Nutzer in die virtuelle Realität. Zu einem Kind, das dringend Hilfe braucht, das an die Ecmo angeschlossen werden muss. Genau das soll jetzt auf virtuelle Weise geschehen. Monitore, Bett, Ecmo - alles ist auf engstem Raum untergebracht. Fast fürchtet man, etwas umzustoßen. Die Innenseite der offenen, linken Hand wird zum Display. Die echte, rechte Hand wird plötzlich magisch blau und der digitale Zeigefinger drückt den Startbutton. Eine Stimme erklärt die Ecmo-Funktion und sagt, was nun getan werden muss: Katheter legen.

Ihr Patenkind hat Andrea Engelhardt, 50, noch vor Corona auf die Idee gebracht, VR-Brillen einzusetzen und für ein Programm zu nutzen, das Pflegefachkräfte und Ärzte für die Arbeit mit der Ecmo schult. Im Februar 2022 beginnt sie zusammen mit Kollegin Anne Stiller, 43, die Idee in die Tat umzusetzen. Sie beantragen Fördergelder, suchen nach Software-Entwicklern, holen Ärzte und Pflegefachkräfte an Bord. Von Anfang an ist es der Leiterin des Studienzentrums wichtig, miteinander zu arbeiten, für das Projekt zu begeistern. Bis dahin wurde an Simulationspuppen geübt, aber "so ein Schulungsprogramm" wie sie sagt, habe es einfach noch nicht gegeben.

Die Ecmo erfordert eine intensive Betreuung

Die Ecmo bedeutet Hoffnung in einer lebensbedrohlichen Situation. Aber sie ist oft auch die letzte therapeutische Option. Und sie macht Menschen auch Angst: so viele Schläuche, so viele Geräte und ein immens hoher Pflege- und Betreuungsaufwand. Rund um die Uhr muss ein Patient betreut werden. Auch die Intensiv-Pflegefachkräfte hätten Respekt vor der Ecmo, erklärt Heike Flick, Leiterin der Intensivstation 3.3 der Klinik für angeborene Herzfehler und Kinderkardiologie. Trotz hoher Professionalität im Umgang mit diesen Patienten. Denn jeder Handgriff müsse sitzen, wenn die Herz-Lungen-Maschine schnell angeschlossen werden muss. "Fehler an der Ecmo sind nicht leicht zu beheben. Das ist ein sehr spezieller Bereich in der Intensivpflege", sagt sie, und deshalb sei es sehr gut, dass man nun mit diesem "einzigartigen" Übungsprogramm an der Lazarettstraße den Pflegefachkräften "die Berührungsängste vor der Ecmo" nehmen könne.

Die blaue Hand greift nach dem Katheter. Der kann beim frisch operierten Säugling direkt über dem Brustkorb eingesetzt werden. Passt alles, geht es weiter. Mit zusätzlichen Hinweisen, Erklärungen. Jeder Handgriff wird dokumentiert. Für später, zur Analyse. "Routine zu bekommen, Notfallszenarien zu trainieren", glaubt Bettina Ruf, sei sehr wichtig. Vor allem in einer "geschützten Umgebung", ergänzt Engelhardt. Die Ecmo muss in einer Notfallsituation sofort laufen, es darf keine Luft in die Schläuche kommen, das Blut darf nicht in den Schläuchen gerinnen, alle Anschlüsse müssen dicht sein - "alles funktioniert nicht ohne die Pflegefachkraft, ohne Arzt", sagt die Oberärztin.

Jedes kleinste Detail wird in das Programm eingearbeitet

Eine Pin-Wand mit gelben Zetteln. Unzählige Fotos, Skripte, Beschreibungen. Jeder Schritt sei für die Entwicklung des Programms festgehalten worden, sagt Daniela Böhrer vom UP Designstudio. Zigmal war man im Intensivzimmer, zigmal wurde die Maschine studiert. "Jeden Handgriff, jedes kleinste Detail haben wir mit den Ärzten und Pflegefachkräften abgesprochen, haben überlegt, was die wichtigsten Kriterien für eine Ecmo-Schulungssoftware sind", erklärt die 29-jährige Produktdesignerin. Die Wirklichkeit wurde übertragen in die digitale Welt.

In regelmäßigen Ecmo-Workshops wurden Ärzte und Pflegefachkräfte am Herzzentrum schon immer geschult - nun aber mit der VR-Brille und an der virtuellen Ecmo. Die anfängliche Skepsis vor der Brille und dem Programm ist verschwunden. "Als ich das erste Mal die Brille aufhatte", sagt Bettina Ruf, "war ich schwer beeindruckt, wie lebensecht alles ist". Nun soll das Programm ein "marktfähiges Produkt" werden, sagt Engelhardt. Denn andere Kliniken hätten auch schon Interesse gezeigt.

An die 20 Patienten im Jahr werden in der Klinik für angeborene Herzfehler und Kinderkardiologie an die Ecmo gelegt, jährlich 500 Herzoperationen an der Herz-Lungenmaschine und an die 800 Behandlungen im Herzkatheterlabor vorgenommen. Oft müssen die Patienten danach an die Ecmo. Peter Ewert, Leiter der Klinik für Kinderkardiologie am DHM, geht davon aus, dass sich das Programm bewährt. Denn werde es "eine Blaupause für das Training vieler anderer komplexer und kostspieliger intensivmedizinischer Verfahren sein".

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