Süddeutsche Zeitung

Krieg in der Ukraine:"Die Kinder haben gefragt, ob sie leben werden"

Lesezeit: 4 min

Nadja Petrovna ist mit ihren beiden kleinen Söhnen und ihrer Mutter vor dem Krieg in der Ukraine geflohen. Unterschlupf fanden die vier bei einer Familie in Zorneding. Von der Zerrissenheit, an einem sicheren Ort zu sein, obwohl man mit dem Herzen eigentlich ganz woanders ist.

Von Karin Kampwerth, Zorneding

Es ist ein Augenblick, der durch Mark und Bein geht an diesem friedlichen Frühlingsnachmittag. Daniela und Reinhard Preis haben auf der Terrasse ihres Reihenhauses in Zorneding Cappuccino serviert. Die Sonne scheint warm. Am Zaun lehnt ein Laufrad, auf dem Rasen liegt ein Hula-Hoop-Reifen. Hund Iggy lauert unterm Tisch auf ein Stückchen Cantuccini-Keks, als plötzlich die Sirenen heulen. Vielleicht hat jemand sein Schnitzel in der Bratpfanne vergessen? Ist ja häufig ein Grund dafür, dass die örtliche Feuerwehr ausrücken muss. Ein bisschen viel Qualm, aber ordentlich lüften und ein neuer Anstrich reichen meist aus, um das Malheur vergessen zu machen. Nadja Petrovna aber zuckt zusammen. Es ist echte Panik, die sie ergreift. Absoluter Alarmzustand.

Sirenengeheul bedeutet seit vier Wochen Lebensgefahr für sie, für ihre Familie, für ihre beiden kleinen Söhne Andrii und Vladi. Sie sind doch gerade erst fünf und drei Jahre alt. Die Kaffeerunde kann die 39-Jährige beruhigen, doch die Angst, die in ihren Augen zu lesen war, lässt einen nicht mehr los.

Der neunjährige Sohn hat freiwillig sein Kinderzimmer geräumt

Nadja Petrovna ist mit den Kindern und ihrer Mutter Valentina Vasilivna, 58, vor Putins Bomben geflohen. Freitag vor einer Woche sind sie in Zorneding angekommen, wo sie Familie Preis aufgenommen hat. Xaver Preis, 9, hat dafür freiwillig sein Kinderzimmer geräumt und ist in den Hobbykeller gezogen. "Dort hätten wir Nadja natürlich auch unterbringen können", sagt Daniela Preis. Aber das hätten sie dann doch nicht gewollt, die Familie habe in der Ukraine zwei schreckliche Wochen im Keller verbracht, um sich vor den Angriffen der Russen zu schützen.

Die ersten Tage mit den Gästen bedeuteten für Familie Preis mehr als nur Betten herrichten, Spielzeug bereitstellen, Essen machen. Zumal Daniela und Reinhard Preis zunächst zwar spontan für ukrainische Geflüchtete eine Unterkunft zur Verfügung stellen wollten, dann aber einen Rückzieher gemacht hatten. Beide Eltern sind berufstätig, die Kinder selbst noch klein. Neben Xaver gibt es Josefa, die voriges Jahr erst in die Schule gekommen ist. "Wir haben uns gefragt, ob wir die Zeit haben, uns auch ausreichend kümmern zu können", sagt Daniela Preis. Als dann aber der Anruf von Natalia Neumann kam, deren Tochter mit Xaver Preis in die Schule geht, konnte Daniela Preis nicht nein sagen, so dringlich klang die Bitte Neumanns. Eine halbe Stunde später standen Nadja Petrovna, ihre Mutter und die beiden Kinder vor der Tür. Erschöpft von der Flucht und ja, auch traumatisiert von dem, was sie nie geglaubt hätten, erleben zu müssen.

Natalia Neumann, die selber aus der Ukraine stammt und für Gastgeber wie Familie Preis, aber auch für viele Geflüchtete in Zorneding ein Segen ist, übersetzt an diesem Nachmittag das Schreckliche, das Nadja Petrovna berichtet. Reinhard Preis stellt fast unbemerkt einen Taschentuchspender auf den Tisch, seine Frau Daniela sagt nach dem Gespräch erschüttert: "Vieles davon haben wir auch noch nicht gewusst." Wie auch? Nadja Petrovna und ihre Mutter sprechen kein Wort Englisch, geschweige denn Deutsch. Man verständigt sich via Google Translate. Viel Zeit verbringen die Gäste in ihrem Zimmer. Sie müssen zur Ruhe kommen, begreifen, dass sie in Sicherheit sind, aber auch, was in den vergangenen vier Wochen passiert ist.

Nadja Petrovnas Mann und ihr Schwiegervater mussten zurückbleiben. Der Bruder kämpft an der Front

Unendlich dankbar sei sie Daniela und Reinhard Preis, sagt Nadja Petrovna. "Aber dass ich hier bin, verstehe ich immer noch nicht." In ihrem Kopf fühle sich alles an wie ein Nebel. Darin sind auch viele Erinnerungen an die Flucht verborgen. Da war die Granate, die unweit ihres Hauses in der Nähe von Mykolajiw einschlug. Die Stadt liegt hundert Kilometer von Odessa und 60 Kilometer von Cherson entfernt. Namen, die in den Nachrichten inzwischen zum alltäglichen Grauen gehören. Andrii, ihr Fünfjähriger, habe den Raketeneinschlag gesehen. "Die Kinder haben gefragt, ob sie überleben werden", erzählt Nadja Petrovna aufgewühlt. Da sei der Entschluss gefallen, die Ukraine zu verlassen. Ihr Mann und der Vater mussten zurück bleiben, der Bruder kämpft bereits an der Front.

"Wir sind mit dem Auto nach Mykolajiw gefahren", daran kann sich die 39-Jährige noch erinnern. "Wir wussten nicht, ob wir erschossen werden." Weiter ging es in Bussen und mit Zügen über Moldau und Rumänien bis nach München. Hier verbrachten sie die erste Nacht in der Notunterkunft in der Riemer Messehalle.

Dass sie dort Natalia Neumann kennenlernten, war ein glücklicher Zufall. Die Inhaberin einer Künstleragentur in Zorneding wollte in Riem eine andere Frau mit ihren Enkeln abholen, diese hatte Nadja Petrovna und ihre Familie auf der Flucht kennengelernt. Man war zusammen weitergereist, habe sich gegenseitig unterstützt und Mut zugesprochen. "Larissa hat zu mir gesagt, dass sie die Notunterkunft nicht ohne Nadja verlassen kann", erzählt Neumann. So kam es, dass sie sich ans Handy hängte und sämtliche Kontakte anrief, um eine private Unterkunft für vier Personen zu finden. Kein einfaches Unterfangen, auf das sich Familie Preis am Ende eingelassen hat.

Vorerst muss sich Nadja Petrovna mit kurzen Telefonaten in die Heimat zufrieden geben

Acht Menschen in einem ganz normalen Reihenhaus, das muss man erstmal können. Aber Daniela Preis sagt: "Wir haben ein Riesenglück mit Nadja und ihrer Familie. Wir können es sicher lange miteinander aushalten." Genauso weiß sie aber, dass die Gäste aus der Ukraine so schnell wie möglich nichts lieber als wieder nach Hause wollen. Doch vorerst muss sich Nadja Petrovna mit kurzen Telefonaten in die Heimat zufrieden geben. "Wir sagen uns nur, dass wir noch leben", erzählt sie. Manchmal hört sie dann durchs Telefon den Luftalarm.

Wenigstens hat es die Bürokratie den beiden Familien nicht allzu schwer gemacht, auch wenn es die eine oder andere Hürde gegeben habe. "Im Ebersberger Landratsamt ist man aber großartig", lobt Daniela Preis. Jeder Anruf, jede Mail werde umgehend beantwortet, "selbst, wenn es schon 22 Uhr ist".

Ungeklärt ist, wie es mit den Kindern weitergeht. In den Kitas gibt es bislang keinen Platz. Aber vielleicht gibt es bald ein Begegnungscafé in Zorneding. Bürgermeister Piet Mayr steht der Idee, eine solches im Jugendzentrum zu schaffen, durchaus positiv gegenüber. Das könne eine Aufgabe für die neue Jugendpflegerin sein, die am 1. April bei der Gemeinde anfängt.

Unterdessen wachsen im Reihenhaus am Daxenberg zwei Familien weiter zusammen. Und manchmal kommt dank Google Translate sogar schon so etwas wie Humor auf. "Lass uns ein Huhn werfen", hat Valentina Vasilivna vorgeschlagen, als sie Borschtsch mit Fleischeinlage servieren wollte.

Die SZ Ebersberg berichtet in den kommenden Wochen regelmäßig darüber, wie es Nadja Petrovna, ihren beiden Söhnen und ihrer Mutter in Zorneding ergeht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5554771
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.