Süddeutsche Zeitung

Auf der Suche nach dem perfekten Weihnachtslied:Kitsch oder Kultur?

Lesezeit: 5 min

Vier Musiker liefern ihre eigene Interpretation von "Kommet, ihr Hirten", "Stille Nacht" und "Jingle Bells". Einig sind sie sich aber in einem: Wenn im Laden die Glöckchen klingeln, geht es nur um die Kasse.

Von Alexandra Leuthner, Ebersberg

Wie soll es denn nun sein, das perfekte Weihnachtslied? Ein bisserl romantisch vielleicht? Mit Glockenklängen eingeläutet oder mit Gebimmel durchsetzt, das im Zweier-Takt imaginär trabender Schlittenpferde den Rhythmus vorgibt? Und das Bild von tief in unberührtem Schnee versinkenden Landschaften in uns wachruft? Oder auch jenes des weiß gekleideten Central Parks in New York. In Amerika scheint es immer bitterkalt und weiß zu sein, wenn die Feiertage nahen, egal, ob Meg Ryan in "Harry und Sally" ihren Christbaum nach Hause schleppt, Kevin allein zu Hause Einbrechern auflauert oder der wunderbare George Bailey alias James Stewart in "Ist das Leben nicht schön" einen himmlischen Gesandten aus dem Strom hinter dem Örtchen Bedford Falls rettet. Das mit dem immer termingerechten Schneegestöber will uns die Mehrheit der alle Jahre wieder ausgestrahlten amerikanischen Kinoklassiker ebenso glauben machen wie deren musikalische Untermalung: "Jingle Bells" oder "Winter Wonderland". Jährlich grüßt also das Murmeltier.

Müssen Chöre trällern, damit ein Weihnachtslied perfekt ist?

Alle Jahre wieder wird auch bei uns die Mär vom weißen Weihnachten zelebriert, die Seen ruhen starr und still vor sich hin , und die Schneeflöckchen fallen, dass es eine wahre Freude ist. Reicht das aber für das perfekte Weihnachtslied? Ist so viel romantische Rührung gar unnötig, müssen nicht viel eher Hirten aus dem kahlen Dunkel einer strauchlosen, nahöstlichen Brachlandschaft kommen, sollte nicht eine Krippe von Esel und Ochs umstanden sein und ein neugeborenes Kind, als Retter der Welt, gepriesen werden? Müssen Chöre trällern und Heintje schmettern?

Hans Klaffl, seines Zeichens Musiker, vor allem aber Kabarettist und also solcher mit einem durchaus kritischen Blick auf die Welt im Allgemeinen und Weihnachten im Besonderen gesegnet, scheint es im wahrsten Sinne des Wortes zu schütteln, wenn er über den Knaben im Stall sinniert. Also so ein nacktes Neugeborenes mit der Weltrettung in Verbindung zu bringen, das liege doch etwas außerhalb seiner Vorstellungskraft, sagt der pensionierte Musiklehrer aus Ebersberg mit kaum versteckter Ironie. Nun sei er, das müsse er an dieser Stelle betonen, kein Mensch, der sich der Kirche verpflichtet fühle, wolle aber seinerseits niemandem in seine religiösen Empfindungen hineinreden, schon gar nicht beim Musizieren. Und natürlich habe er selbst als Kind zu Hause am Heiligen Abend immer gesungen, "mindestens drei Lieder und mindestens 15 Strophen", gemeinsam mit dem Rest der Familie, der Vater habe seinen brummelnden Schusterbariton beigesteuert, "meine Schwester und ich waren die einzigen, die singen konnten, das wird sich recht harmonisch angehört haben", scherzt Klaffl. Erst als er etwas älter geworden war, habe er begonnen, sich mit dem Inhalt jener Stücke auseinanderzusetzen, in denen "gereimt worden ist auf Christkind komm raus", und habe sich dann doch ein wenig davon distanziert.

"'Hirten erst kundgemacht', was soll denn das heißen?" fragt Klaffl provokativ und lässt sich mit großer Inbrunst aus über musikalische und textliche Unzulänglichkeiten der klassischen Weihnachtsliedkultur und die Diskrepanz zwischen der religiösen Aussage und dem textlichen und sprachlichen Niveau, aber auch über die Klingglöckchen, die in den Einkaufsmärkten klingeln, "und man weiß genau, dass es nur um das Klingeln der Kassen geht".

Und, wären sie zusammen an einem Tisch gesessen, hätte ihm genau in diesem Punkt wohl der Vaterstettener Komponist Enjott Schneider genauso zugestimmt wie der Steinhöringer Volksmusiker und Heimatpfleger Sepp Huber oder die Erdinger Musikerin und Komponistin Martina Eisenreich - auch, wenn vor allem Schneider und Huber mit einer ganz anderen Grundhaltung an die Sache herangehen. Von Konsumterror schreibt Schneider per Mail, von Kitsch, zu dem Weihnachten verkommen sei, die Gesellschaft sei "so grobstofflich geworden", mit Knallwerbung und Unterhaltung um jeden Preis, "dass für Spiritualität kein Platz mehr sei". Er habe selbst einmal ein Weihnachtslied vertont, berichtet er, aber nicht "nach dem Lukas-Evangelium wie üblich mit Krippe und Esel, sondern nach dem Johannes-Evangelium. Die Geburt ist dort herrlich pur", so Schneider, "und das Wort ward Geist. Also Gott wurde als Mensch geboren".

"Man kann Blinden nicht von der Farbe erzählen", sagt Enjott Schneier

Zeilen, mit denen vermutlich jene Passanten wenig anzufangen wissen, über die sich Kabarettist Klaffl aufregt - jene, die in einer Straßenumfrage nicht einmal gewusst hätten, warum Weihnachten überhaupt gefeiert wird. Enjott Schneider hätte wohl zustimmend genickt, ist doch seine Antwort auf die Frage nach dem perfekten Weihnachtslied und jenen Zutaten, die ein solches haben müsse, jene: "Man kann nicht Blinden von der Farbe und Lieblosen von der Liebe erzählen."

Doch, halt, ganz so defätistisch soll es doch nicht in den Heiligen Abend gehen, an diesem Punkt kommt Martina Eisenreich ins Spiel, die Komponistin, die über die Kirchseeoner Musiklegende Fritz Lohmeier, ihren Schwiegervater, sowie über zahlreiche Auftritte mit ihrem Streichquartett vielfältige Verbindungen in den Landkreis Ebersberg pflegt. Mit Weihnachtsliedern verbinde sie "Frieden, Besinnlichkeit, Familie, Kindheitserinnerungen - wie kann man das sonst abrufen, wenn man vielleicht gerade an einem entlegenen Plätzchen Erde steckt?" Auch wenn Weihnachten heute so stark mit Konsum, mit Aufwand und auch mit hohen Kosten verbunden sei, bedeute die klassische Weihnachtsmusik doch auch Kultur, sei für sie die "Gestalt des verinnerlichten Weihnachtens", sagt sie. "Wenn wir als Musiker zusammenkommen und Weihnachtslieder spielen, dann müssen wir nicht üben, die kennt und die kann jeder." Eisenreich vergleicht die Empfindung, hervorgerufen durch die bekannten Töne eines Weihnachtslieds, mit einem Duft aus der Kindheit. "Was sonst hat denn diese Kraft?" Eine Szene in einem Film, hinterlegt mit "Oh, du Fröhliche" oder "Jingle Bells", sagt die Komponistin, kreiere sofort eine ganz besondere Stimmung, was ebenso witzig oder skurril wie besinnlich sein könne - und auch das genervte Augenrollen, das Weihnachtslieder bei manchen Menschen hervorriefen, gehöre mit zum allgemeinen Empfinden dieser gemeinsamen Kultur.

Mit "Macht hoch die Tür" beginnt für Sepp Huber das Warten auf Weihnachten

Ganz ohne jenes Augenrollen geht es jedenfalls bei Sepp Huber nicht ab, zumal dann, wenn die trällernden Töne der Weihnachtsmusik den schon am 1. September in den Läden angebotenen Lebkuchen auf dem Fuße folgen, der Dunkelheit des Advents nicht mit der gebotenen Ruhe begegnet werde, sondern mit Unmengen an Lichterketten und festbeleuchteten Christbäumen, wenn also das eigentliche Fest längst vorweggenommen werde. Nicht dass im Advent nicht schon gesungen werden dürfe, erklärt er und nennt "Macht hoch die Tür". "Des wenn i hear, dann geht's halt los." Dann beginne für ihn das Warten auf Weihnachten, schwärmt Huber, bis dann zur Wintersonnenwende unter dem hell erleuchteten Christbaum musiziert werde. Und das gerne auf bayerisch. "Es ist halt ein christliches Fest, und bei uns ist das sehr verankert." Bei uns, das heißt für Huber recht weit draußen und weg vom hell erleuchteten Geschehen, hinter Steinhöring, wo es vermutlich viele gibt, die mitsingen können bei "In Nacht und Dunkel liegt die Erde", oder auch "Was tuat denn der Ochs im Kripperl drin", die auch den Andachtsjodler kennen, den Martina Eisenreich gerne zum Beginn der Bescherung am Heiligen Abend auf der Quetschn spielt; eingedenk ihrer bayerischen Heimat, wie sie erzählt. Sepp Huber intoniert dann auch gleich noch "Heisa, Buama, steht's gschwind auf", und vielleicht würde er mit diesem nicht ganz so bierernst-bayerischen Liedgut sogar bei Hans Klaffl auf Gegenliebe stoßen, der sich dann doch noch als Fan von "Es wird scho glei dumpa" outet. "Das geht nicht so ins Kitschige", sagt er.

Eine gewisse Nachsicht übt Klaffl mit ernsthaft dargebotener Weihnachtsmusik, so wie es sie etwa das englische A-capella-Ensemble The Kings Singers zelebriert. "Da ist man versucht, den Text zu ignorieren, weil es einfach schön klingt." Auch "Stille Nacht" scheint vor seinen Ohren halbwegs Gnade zu finden - vielleicht des Tonumfangs wegen, den man eigentlich sängerisch Durchschnittsbegabten nicht zumuten könne, vielleicht aber auch wegen des melodischen Gleichklangs mit Bizets "Toreador"-Arie aus der Oper "Carmen": "'Auf in den Kampf, Torrero'", hören Sie mal hin, nur der Rhythmus ist ein bisschen anders", sagt Klaffl schmunzelnd. Sein ideales Weihnachtslied jedenfalls "hätte nichts mit Weihnachten zu tun".

Komponist Enjott Schneider bricht dagegen eine Lanze für "Es ist ein Ros entsprungen" - "ein Juwel", wie er sagt, dessen Komponist 2021 gerade völlig unbeachtet seinen 400. Todestag und 450. Geburtstag feiere. Wie auch immer man nun zu welchem Weihnachtslied steht, Martina Eisenreichs Resümee können vermutlich die meisten unterschreiben: "Mit den Liedern ist es wie mit den Weihnachtsplätzchen: Ab dem 1. Januar kann die auch keiner mehr sehen."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5495156
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.