Süddeutsche Zeitung

Dachau:"Wir dürfen nicht wegsehen"

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Die Dachauer Prozesse zählen zu den bedeutendsten Kriegsverbrecherprozessen der Alliierten. Jetzt hat die KZ-Gedenkstätte ein Theaterstück darüber inszeniert. Es gibt Opfern und Tätern ein Gesicht.

Von Dorothea Friedrich, Dachau

Ein Mann sitzt unter der amerikanischen Flagge, lässig hat er die Beine übereinander geschlagen, aus seinem Mund sprudeln die Worthülsen nur so heraus, seine Körpersprache sagt überdeutlich: Was wollt ihr Banausen eigentlich? Ich sage euch, wo's langgeht. Ein weiterer Mann hockt hochkonzentriert an einem abgenutzten Schreibtisch, ein dritter marschiert mit strammem Schritt durch den kargen Raum. An der Seite sitzen hell gekleidete Gestalten. Ungläubig, empört, verzweifelt hören sie dem Mann auf dem Stuhl zu.

Diese Szene aus "Die Dachauer Prozesse" wiederholt sich mit kleinen Abwandlungen immer wieder, wird zu einem Perpetuum Mobile des Grauens.

Das Stück gibt Opfern und Tätern ein Gesicht

Entstanden ist das knapp einstündige Theaterstück anhand von bislang unveröffentlichten Notizen des U.S. Army-Oberstleutnants und späteren Richters der Dachauer Prozesse, Warren Lambert, und seinen Mitschriften von Befragungen Überlebender. Unter der Ägide von Tugyan Ebru Baris hat "Shining Bear Productions" zudem Archivmaterial mit Zeitzeugenberichten und Dossiers von SS-Angehörigen ausgewertet und so unter der Regie von Victor Perillo und Milka Mirčić Martinović ein aufrüttelndes Werk geschaffen.

Am vergangenen Donnerstag war Premiere im Kinoraum der KZ-Gedenkstätte Dachau, der ehemaligen Lagerküche des Konzentrationslagers. Schnell zeigte sich: Dieses Stück ist die adäquate Begleitung zur neuen Sonderausstellung "Dachauer Prozesse - Verbrechen, Verfahren und Verantwortung" der Gedenkstätte. Es gibt Opfern und Tätern ein Gesicht, macht aus der Fülle von Namen in den Akten der 1912 Angeklagten, denen von 1945 bis 1948 in 461 Verfahren in Dachau der Prozess gemacht wurde, Menschen, denen man auch heute noch auf der Straße begegnen könnte - und womöglich ohne es zu ahnen, begegnet. Sind Rechtsradikalismus, Fanatismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit derzeit doch mindestens so bedrohlich wie die Auswirkungen von Corona und Krieg überall auf der Welt.

Doch zurück zur Theater-Aufführung in der Gedenkstätte: In kurzen Szenen decken Felix von Jascheroff als unnachgiebiger Richter Warren Lambert und Vivian Kanner als leidenschaftliche Staatsanwältin das perfide Weltbild der Angeklagten auf. Deren Namen werden nur mit Buchstaben angegeben, stehen doch Mediziner, Aufseher oder Lagerkommandant pars pro toto für die NS-Schergen. Unterstützt werden Richter und Staatsanwalt von vier weiß gekleideten Menschen, den Opfern dieser Bestien. Da schwadroniert etwa "Professor Dr. X", der oben beschriebene vor Arroganz strotzende Angeklagte, von "freiwilligen Probanden", die auf seiner "experimentellen Malariastation" an diversen Forschungsexperimenten teilgenommen hätten. Sie seien "alle immun gegen Malaria" geworden und selbstredend wie in einer Privatklinik behandelt worden.

Die grauenhafte Realität schildert ein Gefangener: Wie er mit lebenden Malaria-Mücken am ganzen Körper traktiert wurde, wie ihm die Medikationen und neun Impfungen aufgezwungen wurden, wie er gequält wurde und in kürzester Zeit von 90 Kilo Gewicht auf 42 abmagerte. Jede Faser seines Körpers strahlt die hilflose Wut, das Entsetzen ob der Lügen und ob der vielen Toten, die diese "medizinischen" Experimente gefordert haben, aus. Noch schlimmer wird es beim Verhör von "Lagerarzt Dr. Y". Der behauptet, auf der Tuberkulosestation seien, "nur kranke Menschen" behandelt worden. Die Realität: Leberpunktionen, bei denen Gefangene mehr leiden mussten, als Labortieren heute zugemutet wird, Tote über Tote und ein Angeklagter, der sagt: "Ich war nur ein ausführender Assistenzarzt."

"Wer garantiert, das so etwas nicht nochmal passiert?"

Schuldig im Sinne der Anklage sind all die weiteren Täter: der Wachmann, der "für Ordnung und Sauberkeit in den Blocks" zuständig war und als "Strafmaßnahme" die Häftlinge mit dem Gummischlauch verprügelte oder sie auspeitschte. War jemand zu krank oder zu schwach zum Arbeiten, trieb er diesen auch gerne in den Stacheldraht und konnte sicher sein, dass er vom Wachturm aus erschossen wurde. Da ist der SS-Sturmscharführer, der Hunde auf die Gefangenen hetzte und sagt: "Ich habe nichts gehört und nichts gesehen." Und da ist der "SS-Obersturmführer und Schutzhaftlagerführer EF". Sein pervertiertes Gehirn dachte sich alle möglichen Arten der Folter aus. "Er schoss auf jeden, ob er noch lebte oder schon tot war. Es sei so, wie ein Reh zu schießen", sagt ein Zeuge. Und berichtet, wie der Lagerkommandant die "Invalidentransporte", sprich die Todesfahrt nach Schloss Hartheim, organisierte und die Opfer verhöhnte. Oder wie er sowjetische Kriegsgefangene hinrichten ließ.

Das ist kaum auszuhalten, selbst dann nicht, wenn man schon viele Male über diese Grausamkeiten gelesen hat. Und das soll es auch nicht. Waren doch die Opfer Kinder, die auf der Straße rumtollten, junge Paare, die gerne die Nächte durchtanzten, oder Siebzehnjährige, deren Eltern und sechs Brüder ermordet worden sind. Das war für alle in einem anderen Leben, dem vor dem Horror der Konzentrationslager. Was bleibt, ist der schon fast verzweifelte Aufruf am Schluss dieses Stücks, das man unbedingt gesehen haben sollte: "Wer garantiert, das so etwas nicht nochmal passiert? Wir dürfen nicht wegsehen."

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