Süddeutsche Zeitung

Nazi-Verbrechen:Die fast vergessenen Dachauer Prozesse

Lesezeit: 2 min

Nach Kriegsende kommt es zu gut 500 Militärgerichtsverfahren, die aufarbeiten, wie die deutsche Vernichtungsmaschinerie funktionierte. Doch diese Dachauer Prozesse sind bis heute relativ unbekannt. Eine Ausstellung soll das nun ändern.

Von Thomas Radlmaier, Dachau

Sie stehen seit jeher im Schatten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse: die Dachauer Prozesse. Während sich die Nazi-Elite nach Kriegsende in Nürnberg für ihre Verbrechen verantworten musste, kam in Dachau das System der deutschen Konzentrationslager zur Anklage. In den Prozessen wurde sichtbar, wie die deutschen Vernichtungsmaschinerien funktionierten und wer sie am Laufen hielt. In den fast 500 Militärgerichtsverfahren, die im Dachauer Internierungslager in unmittelbarer Nähe zum befreiten KZ stattfanden, mussten sich mehr als 1900 Angeklagte für ihre Taten während des Nationalsozialismus rechtfertigen. Die Verhandlungen deckten zudem die Beteiligung ganz normaler Bürger an den NS-Verbrechen auf.

Die Dachauer Prozesse zählen zu den bedeutendsten Kriegsverbrecherprozessen der Alliierten. Und doch sind sie heute nur einem Fachpublikum ein Begriff. Bezeichnend für das Missverhältnis zwischen Bedeutung und Wahrnehmung der Militärgerichtsverfahren ist die Situation des einstigen Gerichtsgebäudes. Es befindet sich heute auf dem Gelände der bayerischen Bereitschaftspolizei. Diese nutzt es hauptsächlich als Lagerhalle.

Die KZ-Gedenkstätte will die Dachauer Prozesse aus dem Schatten von Nürnberg herausholen und hat eine Sonderausstellung konzipiert. Die Ausstellung zeigt die Tatorte der Verbrechen, informiert über die rechtlichen Grundlagen, stellt Gerichtspersonal, Angeklagte und Zeugen vor und gibt einen Überblick über einzelne Verfahren und deren Folgen.

Offizielle Eröffnung mit US-Botschafterin Amy Gutmann

Die Ausstellung wird offiziell am Freitag, 29. April, eröffnet, dem 77. Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau. Auch US-Botschafterin Amy Gutmann wird bei der Eröffnung sprechen. Karl Freller, Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, sagt: "Wir begrüßen diese Ausstellung, die sich mit einem der größten NS-Verfahrenskomplexe auseinandersetzt, der immer noch im Schatten der bekannteren Nürnberger Prozesse steht. Die seinerzeit diskutierten Fragen nach Gerechtigkeit und dem Umgang mit der Vergangenheit sind bis heute aktuell."

Geborgene NS-Dokumente, Zeugenaussagen der Überlebenden sowie umfangreiche Vernehmungen von Tatverdächtigen schufen die Grundlage für die Dachauer Prozesse. Das erste Verfahren, der Dachau-Hauptprozess, wurde am 15. November 1945 eröffnet, fünf Tage bevor in Nürnberg der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher startete. Auf der Anklagebank saßen der ehemalige Lagerkommandant Martin Gottfried Weiß, andere SS-Angehörige oder medizinisches KZ-Personal, darunter etwa der Wissenschaftler Claus Schilling, der in seiner Versuchsstation im KZ Dachau Tausende Häftlinge absichtlich mit Malaria infizierte. Weiß, Schilling und 34 weitere Angeklagte wurden zum Tode verurteilt.

Im Dachauer Hauptprozess sagten auch einige ehemalige Häftlinge aus. Für viele war es die erste Möglichkeit, ihre traumatischen Erfahrungen in den Lagern zu verarbeiten. Der Belgier Arthur Haulot, Gründungsmitglied des Internationalen Gefangenenkomitees, gab im Zeugenstand an, dass nicht der Hunger oder die sadistischen Misshandlungen das Schlimmste im Lager gewesen seien, sondern der moralische Verfall. Nach der Verhandlung sagte er einem Reporter: "Ich halte solche Prozesse für wichtig, die Schuldigen sollen, im Gegensatz zu den Gepflogenheiten der Nazis, nicht ohne Verfahren bestraft werden; wir wollen der Welt beweisen, dass wir da ein anderes, ein besseres Rechtsgefühl haben. Darüber hinaus hat die Weltöffentlichkeit ein Recht darauf zu erfahren, was in den KZ-Lagern vor sich gegangen ist."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5572458
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.