Süddeutsche Zeitung

KZ-Überlebende:"Wir können nicht akzeptieren, dass diese Worte so missbraucht werden"

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Internationale Komitees der ehemaligen Konzentrationslager verurteilen Wladimir Putins Krieg sowie den Vorwand, die Ukraine "entnazifizieren" zu wollen.

Von Thomas Radlmaier, Dachau

Sie mussten qualvoll erfahren, wohin Hass, Hetze und ein durch Propaganda legitimierter Krieg führen kann: die Millionen von Menschen, welche die Deutschen zwischen 1933 und 1945 in Konzentrations- und Vernichtungslager sperrten. In Dachau und anderen Orten gründeten die Überlebenden kurz vor oder nach der Befreiung internationale Komitees, um die Welt wissen zu lassen, was in den Lagern geschah.

Auch heute noch sind die Komitees das Sprachrohr der ehemaligen Häftlinge und ihrer Nachfahren. Ihre Stimmen haben moralisches Gewicht in Europa.

Jetzt haben die Vorsitzenden mehrerer internationaler Komitees von ehemaligen Konzentrationslagern an den russischen Präsidenten Wladimir Putin appelliert, den Angriffskrieg gegen die Ukraine sofort zu beenden. "Keiner von denen, die den Krieg erlitten haben, keiner von denen, die dieses schmerzhafte Erbe tragen, erträgt die Aussicht auf die Rückkehr tragischer Zeiten", heißt es in dem Aufruf. Diesen haben neben Jean-Michel Thomas, Präsident des Comité International de Dachau (CID), und der Lagergemeinschaft Dachau auch die Vorsitzenden der Komitees von Auschwitz, Buchenwald-Dora, Mauthausen, Natzweiler-Struthof, Neuengamme, Sachsenhausen und Ravensbrück unterzeichnet. Als "Hüter des Andenkens an die Opfer der nationalsozialistischen Konzentrationslager" verweisen sie auf den Schwur von Mauthausen, wonach die "wiedergewonnene Freiheit als ein allen Völkern gemeinsames Gut" zu betrachten sei.

"Wir sind legitimiert, das Gewicht der Tragödie, die diese Worte bedecken, geltend zu machen."

Die internationalen Komitees kritisieren Putin außerdem heftig dafür, den Angriffskrieg gegen die Ukraine mit falschen Behauptungen zu rechtfertigen. Unter anderem sprach Putin von einem angeblichen Völkermord und bezeichnete die ukrainische Führung als Nazis. Als Ziel des Militäreinsatzes gab er die Entwaffnung und "Entnazifizierung" der Ukraine aus.

"Als Träger des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus verurteilen die Unterzeichner:innen dieses Aufrufs die Verwendung der Worte Entnazifizierung und Völkermord zur Rechtfertigung des Angriffs auf die Ukraine", heißt es in dem Appell der internationalen Komitees. Und weiter: "Wir sind legitimiert, das Gewicht der Tragödie, die diese Worte bedecken, geltend zu machen. Wir können nicht akzeptieren, dass diese Worte so missbraucht werden."

Die Komitees verweisen darauf, dass die Deutschen während des Zweiten Weltkrieges auch viele Russen und Ukrainer in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportierten. Russen und Ukrainer waren in den Lagern oft denselben Entbehrungen, Demütigungen und lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt. "Sie konnten sich nur auf die Solidarität unter den Deportierten verlassen, um zu überleben. Sie teilten mit allen die Hoffnung, Zeugen und Akteure einer neuen, befreiten und friedlichen Welt zu werden", so die Vereinigungen der ehemaligen Häftlinge.

Die Mitglieder der internationalen Komitees der ehemaligen Konzentrationslager sehen durch Putins Krieg die Existenz der Ukraine und den Frieden in Europa bedroht. Sie sind überzeugt, "dass jeder geopolitische Konflikt am Verhandlungstisch gelöst werden kann, wenn alle Seiten Vernunft und Menschlichkeit an den Tag legen".

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