Süddeutsche Zeitung

Festival:Unberührbar, rührend

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"Spielart" zeigt, dass Theater auch ohne großen Aufwand maximale Wirkung haben kann.

Von Egbert Tholl, München

Irgendetwas rumort in Wanjiru Kamuyu, bringt ihren Körper zum Zittern und ihre Stimme, sehr schön gospelig, zum Singen. Sie ist im Haus der Kunst umgeben von ein paar Stehlämpchen, ein paar Topfpflanzen und einem Geviert aus weißen Stoff, fängt an zu erzählen, Briefe vorzulesen, berichtet vom Erwachsenwerden in der Bronx - eine Elfjährige erkundet sich und die Welt drumherum, in der offenbar Gewalt herrscht. Es bleibt alles ein wenig nebulös, wovon "Bronx Gothic" von Okwui Okpokwasili handelt, es hinterlässt ein vages Aroma von Betroffenheit. Am selben Tag kann man bei "Spielart" in der Muffathalle noch den Tänzern von Alessandro Sciarroni ("Folk-S - Will You still love me Tomorrow?") dabei zusehen, wie sie bis zur Erschöpfung schuhplattln und den Tanz abstrakt zerlegen. Oder bei einer Video-Konferenz im Hoch X die Menschen im "Manila Zoo" besuchen, der allerdings nach aufreizendem Beginn in inhaltliche Bedeutungslosigkeit zerfällt.

Macht nichts, das hat man allerspätestens am nächsten Tag im Volkstheater vergessen. Dort ist Sankar Venkateswaran mit seiner Produktion "Criminal Tribes Act" zu Gast, die inzwischen eine "Extended-Version" erfahren hat. Venkateswaran zeigte die Basisversion schon einmal in München, er hat auch am Volkstheater inszeniert, er hat im Dschungel von Kerala ein Theater aus Bambus gebaut, er arbeitet dort, im Süden Indiens, und ist international unterwegs. "Criminal Tribes Act" ist ein Lehrstück mit der Wucht sehr unmittelbaren Theaters, für das es einen Reisigbesen, zwei Hocker und einen Tonkrug braucht, der am Ende zu Bruch geht.

Anirudh Nair und Chandra Ninasam erzählen vom uralten Kastensystem Indiens, das in der Kolonialzeit eine bizarre Verschärfung erfuhr, eben den "Criminal Tribes Act", mit dem die britschen Kolonialherren die untersten, oft nomadisch lebenden Kasten für kriminell erklärten. Den Act gibt es nicht mehr, geblieben ist die totale Rechtlosigkeit der untersten Gesellschaftsschicht. Da setzt im Spiel die Vergegenwärtigung ein. Die beiden Schauspieler erfinden aus verschiedenen Perspektiven eine Szene. Ein Unberührbarer arbeitet auf dem Feld, eine junge Frau aus einer höheren Kaste findet ihn interessant, und wie ein Donner, als Gewaltausbruch aus dem Nichts dröhnt Ninasams Stimme, die Stimme des Vaters, dem man ihn diesem Moment mühelos zutraut, er würde den Rechtlosen einfach erschlagen.

Mit Kreide skizzieren sie ein Dorf, auf der einen Seite der Straße die Tempel, das Restaurant und der Frisör, auf der anderen die Häuser der Untersten, für die die andere Seite verboten ist. Sie erzählen von unfassbaren Gewalttaten, von der Behandlung der Untersten wie ein Stück Fleisch, sie erzählen, selbst nach Gewissheit suchend, sich gegenseitig übersetzend, von den Versuchen, vor der UNO das Kastensystem als illegal zu brandmarken. Und vor allem bleibt das nicht allein plastische, szenische Erzählung aus einem fernen Land, nein, es berührt das eigene Denken. Kasten gibt es auch in Europa, nicht in der selben Brutalität wie in Indien, wo sie dem Erhalt eines ungerechten Staatssystems dienen. Die Kasten hier wirken sozial, kapitalistisch, rassistisch und auch, ja, oft undurchlässig.

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